Rezension von: Muhammet Sait Duran, Zur Theorie einer teleologischen Methode in der islamischen Normenlehre. Aš-Šāṭibīs (gest. 790/1388) Konzept der Absichten der Scharia (maqāṣid aš-šarīʿa), Berlin: EBV-Verlag 2015, 406 Seiten, ISBN
Maqāṣid aš-Šarīʿa gehörte im 20. Jahrhundert zu den populärsten Konzepten der islamischen Reformbewegungen, weil es mit seiner teleologischen Ausrichtung die einzelfallorientierende Herangehensweise des islamischen Rechts aufzubrechen schien und damit eine neue Dynamik für die islamische Normenlehre versprach. Es gibt kaum einen muslimischen Gelehrten, Denker oder Akademiker, der in seinen Schriften nicht auf dieses Thema eingegangen ist, weshalb eine sehr reichhaltige Literatur dazu entstanden ist.[1] Said Duran verfolgt in seinem im Jahre 2015 erschienen Buch ein sehr ambitioniertes Ziel, nämlich die uṣūl al-fiqh-Disziplin zu erneuern, indem er versucht die teleologische Methode in den traditionellen methodischen Diskurs zu integrieren und somit einen Perspektivenwechsel einzuleiten. Die für die traditionelle Normenlehre charakteristische formalistisch-deontologische Herangehensweise soll um die teleologische Perspektive erweitert werden. Die Möglichkeit eines solchen Vorhabens soll ausgehend von der maqāṣid aš-šarīʿa-Theorie, wie sie von Abū Iṣḥāq aš-Šāṭibī (gest. 790/1355) entwickelt wurde , in Angriff genommen werden. „Aš-Šāṭibīs Überlegungen dienen uns als Leitfaden, um die Voraussetzungen und Mechanismen, aber auch die Probleme einer teleologischen Methode auf verschiedenen Ebenen zu analysieren.“ (S. 20) Duran betont, dass ein solches Vorhaben, nämlich eine Neuorientierung in der Normenlehre, nur dann auf breite Zustimmung stoßen kann, wenn sie die charakteristischen Grundtendenzen der islamischen Normenlehre als Ausgangspunkt nimmt und eine systemimmanente Methodenalternative entwickelt. Die maqāṣid-Theorie eigne sich deshalb so gut für einen systemimmanenten Perspektivenwechsel, weil sie eine breite Akzeptanz genieße. Sie sei seit dem 11. Jahrhundert kontinuierlicher Bestandteil der uṣūl al-fiqh-Lehre und wurde von namhaften Gelehrten wie al-Ǧuwainī, al-Ġazālī, ar-Rāzī, ʿIzz b. ʿAbd as-Salām, al-Qarāfī und aš-Šāṭibī entwickelt, jedoch nicht ausreichend als normative Methode in den Normableitungsprozess integriert, sondern immer nur als deskriptiver Erklärungsmodell verwendet. Duran will demgegenüber, dass die Teleologie noch stärker in die Methodologie integriert wird.
Das Buch hat insgesamt 406 Seiten und besteht aus einer Einleitung sieben Kapiteln und einem Schluss. Im ersten Kapitel liefert der Autor eine lange Einführung in die fiqh-Wissenschaft (S.25-85) und klärt die wichtigsten Begriffe und Konzepte und zeigt die historischen Entwicklungslinien mit dem Ziel aš-Šāṭibīs fiqh-Ansatz besser einordnen zu können. Im zweiten Kapitel gibt es eine Kurzbiographie von Šāṭibī, da er in Deutschland noch ziemlich unbekannt ist. Im dritten Kapitel werden die Deontologie und Teleologie, die Duran als die beiden Grundtendenzen der Normenlehre festgemacht hat, behandelt, um festzuhalten, in welchem Verhältnis sich die formalistisch-deontologische und teleologische Herangehensweise im klassischen Diskurs gegenüberstehen.
Deontologie sei die dominierende Tendenz, die den Gehorsam gegenüber Gott als die höchste Idee der Gebote formuliere. Normen sollen dem Willen Gottes entsprechen, die anhand der Texte identifiziert werden soll. Dieser strikt nach den Regeln der Sprachwissenschaft und Logik vollzogene textbezogene Ableitungsprozess führe zu Engpässen, mit Arkoun gesprochen, zu einer logozentrischen Schließung. Zwar sei die theoretische Formalisierung der Rechtsfortbildung in der Praxis immer wieder durch istiḥsān (Billigkeit) und istiṣlāḥ (Gemeinwohl) oder anderen Methoden aufgebrochen, aber die formalitisch-deontologische Herangehensweise sei weiter dominant geblieben. Dies hätte eine fallspezifische Betrachtung der rationalen Gründe zur Folge statt einer prinzipienorientierten allgemeinen und erfülle die wichtige Funktion der Rechtssicherheit und Stabilität, was für die klassischen Gelehrten das Hauptkriterium war. Somit seien die deontologischen und teleologischen Tendenzen keine sich ausschließende, gegensätzliche Herangehensweisen, sondern komplementäre, bei der jedoch erstere eine Dominanz hatte um willkürliche Auslegung zu verhindern und die Normen zu rationalisieren. Das ist der klassische Ausgangspunkt der Betrachtung der teleologischen Auslegung im Rahmen der Absichten der Scharia! (S. 135) Im zweiten Teil dieses Kapitels folgt eine obligatorische historische Skizze der Entwicklung der maqāṣid-Theorie von Ǧuwainī bis aš-Šāṭibī, wie man ihr häufig in der Sekundärliteratur begegnet.
Die ersten drei Kapitel bilden den ersten einleitenden Teil der Arbeit, die Kapitel 4 bis 7 stellen den systematischen Teil dar, in dem Duran auf fast 200 Seiten ausgehend von aš-Šāṭibīs Werk Al-Muwāfaqāt den teleologischen Ansatz behandelt. Damit ist es sicherlich die ausführlichste Arbeit über die Methodenlehre von aš-Šāṭibī in deutscher Sprache.
Duran entwirft in Anlehnung an al-Ġazālī und aš-Šāṭibī ein dreidimensionales Handlungskonzept, wonach eine Handlung rational nachvollziehbar (Rationalität), moralisch den Prinzipien der Offenbarungstexte entsprechen (Moralität) und realisierbar, also praktikabel sein (Faktizität) muss. Dieser dreidimensionale Handlungsbegriff gilt als Grundlage für eine Theorie der Absichten der Scharia (S. 167-70), die er in den nächsten Kapiteln weiter auffächert. Der zentrale Satz der Theorie Šāṭibīs lautet „Die Scharias (šarāʾiʿ) wurden nur für das Wohl der Menschen im Diesseits und im Jenseits erstellt.“ (S. 172) Die jenseitige und diesseitige Ausrichtung der Teleologie sei ein wichtiges Kriterium, wodurch ein verengendes, rein diesseitiges Nutzenverständnis überwunden werden soll. Eine weitere Unterscheidung wird zwischen der präventiven und konstruktiven Funktion der Normenlehre gemacht, wodurch die Scharia nicht nur eine prohibitive Funktion als Schutz der fünf Universalgüter innehat, sondern auch aktiv ein Wertesystem vorschreibt. Duran schlägt deshalb eine aktive Werteorientierung vor, wodurch der teleologische Ansatz der maqāṣid, die bislang eher präventiv formuliert wurden, erweitert und in das Gesamtsystem der Normenlehre eingebettet werden soll. Das Plädoyer für die Berücksichtigung dieser Mehrdimensionalität der Normen scheint das primäre Anliegen Durans zu sein. (S. 389)
Es ist sicherlich ein großer Verdienst des Autors, die Theorie der
Absichten der Scharia wie sie von aš-Šāṭibī formuliert wurde, detailliert und
systematisch dargestellt zu haben. Es gehört zu den Schwächen des Buches, dass
Duran die sehr reichhaltige und dynamische Forschungstradition zur maqāṣid-Literatur
nicht erwähnt und auf einen „Forschungsstand“ verzichtet. Denn das Ziel Durans,
die teleologische Methode in die traditionelle Normenlehre zu integrieren, ist nicht
neu, sondernseit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein Hauptanliegen zahlreicher
Gelehrter gewesen. Was unterscheidet Durans Arbeit von den Ansätzen von Ibn
ʿĀšūr, Yūsuf al-Qaraḍāwī, Aḥmad al-Ḫamlīšī oder Ǧamāl al-Dīn
ʿAṭiyya, um nur einige zu nennen? Duran verweist an keiner Stelle auf
Vorarbeiten, so dass der Leser völlig im Dunkeln darüber bleibt, was denn der
neue Beitrag Durans im maqāṣid-Diskurs tatsächlich ist. In diesem Rahmen
hätte auch die Frage diskutiert werden können, warum der maqāṣid-Ansatz
trotz einer fast hundertjährigen Beschäftigung mit ihm keine mehrheitliche
Akzeptanz außerhalb der reformorientierten Kreisen erfahren hat, wie Rumee[2] in
seinem Artikel über die Krise des-maqāṣid-Ansatzes gezeigt hat. Dies widerspricht
der Annahme Durans, dass die maqāṣid-Theorie eine breite Akzeptanz
genieße und sich deshalb für eine Neuorientierung sehr gut eigne.
[1] Vgl. Opwis, Felicitas: New Trends in Islamic Legal Theory: Maqāṣid al-Shariʿ̄a as a New Source of Law?, in: Die Welt des Islam (57), 2017, S. 7-32.
[2] Vgl. Rumee Ahmed, Which comes First, the Maqāṣid or the Sharīʿah?, in: Idris Nassery, Rumee Ahmed, Muna Tatari (Hg.), The Objectives of Islamic Law. The Promises and Challenges oft he Maqāṣid al-Sharīʿa, Maryland 2018, S. 239-262.
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