Sind Zinskredite halal? Die Standpunkte türkischsprachiger Moscheevereine in Deutschland

Die Frage, ob es islamrechtlich erlaubt ist für den Erwerb einer Immobilie Zinskredite von konventionellen Banken aufzunehmen, beschäftigt die Muslime seit Jahrzehnten und ist auch heute ein stark diskutiertes Thema. Die meisten Muslime glauben, dass ein Bankkredit verboten ist, kaufen aber trotzdem durch Bankkredite ihre Häuser. Über dieses Thema haben wir in unserer dieswöchigen Fiqh-Runde diskutiert und geschaut, wie die Fatwa-Abteilungen der großen Moscheevereine in Deutschland sich dazu positionieren. Im Folgenden sollen die Standpunkte der türkischsprachigen Religionsgemeinschaften in Deutschland zu diesem Thema, sofern sie feststellbar sind, kurz dargestellt werden. Es geht mir dabei nicht um eine ausführliche Erörterung aus einer islamrechtlichen Gesamtperspektive, sondern um eine deskriptive Darlegung der Argumentationsgrundlage.

Die berühmte Fatwa des European Council for Fatwa and Research (ECFR) aus dem Jahr 1999

1999 veröffentlichte der Europäische Rat für Fatwa und Forschung (ECFR) unter dem Vorsitz von Yusuf al-Qaradawi eine Fatwa, in der ein Zinskredit von einer konventionellen Bank für den Erwerb einer Immobilie für die in Europa lebenden Muslime erlaubt wurde. Diese Erlaubnis war mit der Einschränkung verbunden, dass es für den Eigenbedarf sein muss und man nicht über finanzielle Mittel verfügen darf, um die Immobilie eigenständig zu finanzieren. Da dies ein sensibles und unter Muslimen stark diskutiertes Thema ist, wird die Erlaubnis äußerst vorsichtig formuliert und ausführlich diskutiert.

Zunächst wird in der Fatwa ganz klar dargelegt, dass ein verzinster Bankkredit islamrechtlich gesehen als Ribā zu bewerten ist und deshalb verboten ist. Dann wird betont, dass jeder Muslim und besonders muslimische Organisationen, sich bemühen müssen, nach alternativen Finanzierungswegen zu suchen, um nicht das verbotene Bankdarlehen annehmen zu müssen. Wenn aber keine andere Möglichkeit besteht, eine Immobilie zu erwerben, als ein Kredit bei einer konventionellen Bank, dann greife das Rechtsprinzip „Zwangslagen machen verbotene Dinge erlaubt“. Der Besitz einer Immobilie gehöre zu den Grundbedürfnissen (ḥawāʾiǧ). Eine Mietwohnung decke diesen Bedarf nicht ab, weil man letztlich weiter von anderen abhängig sei und keine gesicherten Verhältnisse habe. Ein Bedürfnis wird wie eine Notwendigkeit bewertet, lautet eine Maxime des islamischen Rechts, wodurch verbotene Dinge erlaubt werden können.[1] Die erste Begründung für die Ausnahmeerlaubnis ist also das Prinzip der Zwangslage („Zwangslagen machen verbotene Dinge erlaubt“). Die zweite Begründung greift auf die alte hanafitische Ansicht zurück, dass im Dār al-ḥarb, also in einem nichtmuslimischen Land, Muslime Zinsgeschäfte mit Nichtmuslimen eingehen können. Solche Verträge seien in einem nichtmuslimischen Land erlaubt und fallen deshalb nicht in die Kategorie des Ribā-Verbots. Diese Fatwa wurde international kontrovers diskutiert und hatte sowohl Befürworter, aber auch viele Kontrahenten. Amir Zaidan und sein Team haben eine lange Widerlegung dieser Fatwa auf ihrer Homepage veröffentlicht und warnen Muslime davor Zinskredite zu nehmen. Hier wird die Fatwa in der Originalversion auf Arabisch und in der deutschen Übersetzung widergegeben und danach versucht zu widerlegen. Beide Argumente des ECFR werden vehement zurückgewiesen. Unter diesem Link geht es direkt zur Fatwa.

Wie gehen die Religionsgemeinschaften mit dieser Frage um?

DITIB-Diyanet

Die DITIB ist der größte muslimische Dachverband in Deutschland mit über 900 Moscheen. Sie orientiert sich in religiösen Fragen weitestgehend an den Vorgaben des Obersten religiösen Rates der Diyanet. Es gibt keine offizielle schriftliche Fatwa der Diyanet, anhand derer die Position zu Bankkrediten ersichtlich wäre. Auf einigen Video-Fatwas wird der Standpunkt jedoch klar erklärt.[2] Die Diyanet lehne Zinskredite strikt ab. Der Erwerb eines Eigentums sei für die Diyanet nicht als ein Grundbedürfnis einzustufen, auch eine Mietwohnung würde den Bedarf decken. Eine Zwangslage entstehe erst dann, wenn es Schwierigkeiten gibt eine angemessene Mietwohnung zu finden, in der man ohne finanzielle Engpässe und in Sicherheit wohnen könnte. Erst dann könne man von der Rechtsmaxime „Zwangslagen machen verbotene Dinge erlaubt“ Gebrauch machen und als allerletzte Möglichkeit einen Zinskredit aufnehmen. Die Diyanet stellt also härtere Bedingungen, um vom Rechtsprinzip der Zwangslage Gebrauch machen zu können. Es müsse sich tatsächlich um eine Zwangslage handeln. In privaten Fatwaanfragen wird diese Haltung noch einmal bestätigt. Es sollte immer individuell entschieden werden, ob eine Kreditaufnahme gerechtfertigt ist oder nicht. Eine allgemeine Erlaubnis für eine Eigentumswohnung besteht also nicht. Der Kernunterschied zu ECFR-Fatwa ist, dass die Diyanet das Eigenheim nicht als Grundbedürfnis sieht und deshalb einen Kredit von einer konventionellen Bank verbietet und nur dann erlaubt, wenn keine geeignete Mietwohnung zu finden ist.  

Auf der anderen Seite hat die Diyanet zu Beginn dieses Jahres in einer umstrittenen Fatwa über das Sozialwohnungsprojekt des staatlichen Bauinstituts TOKI die Finanzierung mit Zinsen in diesem speziellen  Fall offiziell erlaubt.[4] Mit einem festen Zinssatz von 0,49 % sollen Geringverdiener, deren Lebensqualität durch die hohen Mietkosten eingeschränkt sei und die mit normalen Mitteln eine Eigentumswohnung nicht leisten können, die Möglichkeit erhalten eine Wohnung  zu erwerben. Die Diyanet versichert, dass Zinskredite jeglicher Art weiterhin verboten sind. In diesem speziellen Projekt handele es sich um ein Entgegenkommen des Staates, dem es dabei nicht um Zinseinnahmen ginge, sondern  um ein Eigentum für geringverdienende Bürger zu ermöglichen. Die Kriterien der Kreditwürdigkeit bleiben aber auch hier unklar. Ab wann und ab welcher Höhe ist eine Miete für eine Familie nicht mehr zumutbar? Spielen nur finanzielle Aspekte eine Rolle oder gibt es noch soziale Gründe? Ähnlich könnten auch viele Muslime in Deutschland argumentieren und damit ihr Wunsch auf Eigentum mit Zinskrediten legitimieren. In der Praxis gehen viele Imame pragmatisch mit diesem Thema um und erlauben häufig den Kauf einer Erstimmobilie für den Eigenbedarf. Oftmals ist es eine Ermessenssache und die Fatwa der Diyanet lässt auch viel Interpretationsspielraum.

Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) –Hanafitische Position

Der VIKZ hat keine offizielle Fatwa zu diesem Thema. Stattdessen verweisen Imame und Funktionäre auf die oben vom ECFR genannte hanafitische Position und erlauben es den Muslimen prinzipiell Zinskredite aufzunehmen. Der VIKZ hatte schon vor dem ECFR-Fatwa von 1999 diese Meinung vertreten. Laut Abū Ḥanīfa und seinem Schüler Muhammad aš-Šaybānī ist es erlaubt in einem nichtmuslimischen Land Verträge zu schließen, die nach dem islamischen Recht verboten wären. Dazu gehören u.a. Zinsgeschäfte. Allerdings haben die beiden Gelehrten in einem ganz anderen Kontext gelebt und die völkerrechtlichen Kategorien von Dār al-islām und Dār al-ḥarb haben spezifische kontextabhängige Bedeutungen. Die Details sollen hier nicht besprochen werden. Es soll lediglich die Argumentationsgrundlage der jeweiligen Gemeinschaften genannt werden. Auch bei dem VIKZ wird betont, dass man sich möglichst auf den Eigenbedarf beschränken soll. Aber im Grunde genommen wird der Bankkredit in einem nichtmuslimischen Land nicht als Ribā angesehen und ist deshalb grundsätzlich erlaubt. Diese Position wird von den meisten hanafitischen Theologen heute abgelehnt, da sie weiterhin mit den vormodernen Völkerrechtskategorien Dār al-ḥarb und Dār al-islām operiert, die mittlerweile als überholt gelten. Der VIKZ hält jedoch weiterhin an dieser Position fest und interpretiert den Begriff dār al-harb nicht im Sinne von Kriegsgebiet, sondern neutral als „nichtmuslimisches“ Land. Hier geht es also darum, wie vormoderne Fiqh-Konzepte in neuen Kontexten interpretiert und operationalisiert werden.

Milli Görüş  und der Religionsrat (DIK)

Die IGMG hat einen Religionsrat, der periodisch zusammenkommt und islamrechtliche Fragen diskutiert und Beschlüsse/Fatwas veröffentlicht. So werden die offiziellen Fatwas der Gemeinschaft in Buchform veröffentlicht. In der Frage nach Zinskrediten für Immobilien teilen sie die Meinung des ECFR, dass es für den Eigenbedarf erlaubt ist. Aber argumentiert wird nicht mit dem Prinzip der Zwangslage, sondern wie folgt. Die Finanzierung einer Immobilie mit einem Zinskredit sei nicht als Ribā zu bewerten und falle daher nicht unter das Zinsverbot, auch wenn es in konventionellen Banken Zins genannt werde. Da ein Zinskredit für einen Immobilienkauf in konventionellen Banken nur durch ein Zustandekommen eines Kaufvertrags der Immobilie wirksam werde, handele es sich bei dieser Art der Finanzierung um eine Art murābaḥa (Auftragskauf mit Gewinnmarge), die im islamischen Recht erlaubt ist. Der Käufer erteile der Bank den Auftrag, eine Immobilie zu erwerben, um sie ihr zu bestimmten Konditionen abzukaufen. Da die Bank das Geld dem Schuldner nicht zur freien Verfügung stellt, sondern nur für den Erwerb der Immobilie, könne man diese Transaktion nicht als Ribā bezeichnen. Es wird so bewertet, als ob die Bank die Immobilie erwirbt und für einen Gewinnabschag an den Kunden in Raten verkauft. Das, was die Bank Zinsen nennt, könne man islamrechtlich als Gewinnabschlag definieren. Da eine solche Finanzierungsform in der klassischen Rechtstradition nicht vorhanden war und deshalb islamrechtlich nicht erfasst wurde, könne man es als eine Form der murābaḥa einstufen. Nach dieser Argumentation müsste eigentlich jeder Bankkredit, mit dem eine bestimmte Ware finanziert wird, erlaubt sein. Deshalb beschränkt die Fatwa-Abteilung der Millî Görüş die Verwendung des Immobilienkredits auf den einmaligen Eigenbedarf und bekräftigt den Bedarf nach islamischen Finanzierungsmodellen.[5] Ähnlich argumentiert auch die ägyptische Dār al-iftā[6].

Fazit

Die allermeisten hier beschriebenen Moscheevereine schlagen einen pragmatischen Weg ein und erlauben in der Regel Zinskredite für den Eigenbedarf. Der ECFR betrachtet den Besitz einer Immobilie als Grundbedürfnis und legitimiert damit die Umgehung des Ribā-Verbots. Für die Diyanet deckt eine „vernünftige“ Mietwohnung diesen Bedarf ab, weshalb der Besitz einer Immobilie nicht zu den Grundbedürfnissen zählt und ein Zinskredit deshalb grundsätzlich nicht erlaubt wird. Wann es sich um eine vernünftige, angemessene Mietwohnung handelt und ab wann es doch „notwendig“ sein könnte eine Immobilie zu erwerben, hängt von den jeweiligen Kontexten ab. Beide Argumentationen haben ihre Plausibilität, wobei bei beiden ein großer Spielraum vorhanden ist, den die Akteure entsprechend der Kontexte auslegen können. Für den VIKZ und für die IGMG stellt sich diese Frage nach dem Grundbedürfnis erst einmal nicht, da sie den Zinskredit für Immobilien grundsätzlich nicht als Ribā einstufen und damit für erlaubt erklären. VIKZ bemüht das alte hanafitische Argument, dass in einem nichtmuslimischen Land das Ribā-Verbot nicht gültig ist. Die IGMG bewertet den Immobilienkredit von konventionellen Banken als eine Form des murābaḥa (des doppelten Kaufgeschäfts) und damit nicht als Ribā. Dennoch empfehlen sie lediglich für den Eigengebrauch Kredite zu nehmen. Die grundsätzliche Frage lautet also nicht ob „Ribā“ erlaubt ist oder nicht (über diese Frage gibt es keine zweite Meinung), sondern ob die bei Immobilienkrediten anfallenden Zinsen als Ribā eingestuft werden oder nicht. Wie in fast jeder Fiqh-Angelegenheit gibt es also auch in dieser Frage Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gelehrten, und das ist auch gut so:). Wenn ich Zeit finde, kann ich auch auf die Ansätze anderer Religionsgemeinschaften kurz eingehen.  


[1] Alexandre Caeiro, Sharīʿa: Bank Interest, Home Purchase, and Islamic Norms in the West, in: Die Welt des Islam, Vol.44,3, 2004, S. 351-375.

[2] https://www.youtube.com/watch?v=W68btysszVc&feature=youtu.be, https://www.youtube.com/watch?v=osIJzedgMCE

[3] https://www.youtube.com/watch?v=osIJzedgMCE

[4] https://www.diyanet.gov.tr/tr-TR/Kurumsal/Detay/26257/basin-aciklamasi

[5] Vgl. IGMG Din Istişare Kurulu, Fetava. IGMG Din Istişare Kurulu Araştırma ve Kararları I, Köln, 2014, S. 96.

[6]https://daruliftaa.com/business-trade/if-an-islamic-mortgage-costs-too-much-can-i-take-a-conventional-mortgage/. Auch Atabek Shukurov vertritt eine ähnliche Auffassung https://www.youtube.com/watch?v=wtY-CeSHkSIhttps://sulaimanahmed.com/2017/07/28/mortgages-part-1/; https://sulaimanahmed.com/2017/07/28/mortgages-part-2/

[7] https://www.youtube.com/watch?v=wtY-CeSHkSIhttps://sulaimanahmed.com/2017/07/28/mortgages-part-1/; https://sulaimanahmed.com/2017/07/28/mortgages-part-2/

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