Dieser Text geht auf einen Vortrag zurück, den ich bei einer Iftar-Veranstaltung einer muslimischen Hochschulgemeinde gehalten habe, weshalb der mündliche Charakter bewusst beibehalten wurde.
„Es gibt drei Stufen des Fastens: ein allgemeines, ein spezielles und ein sehr spezielles. Beim allgemeinen Fasten verzichtet der Fastende den ganzen Tag auf Essen und Trinken und begnügt sich am Abend mit Getreide und Hülsenfrüchten […]. Und für dieses Fasten gibt es Regeln. Denn auch wenn es Menschen gibt, die sich ohne besondere Absicht der Nahrung enthalten, so sind sie doch keine Fastenden. Aber das besondere Fasten ist das Fasten der Asketen … und das ganz besondere Fasten ist das Fasten der Vollkommenen, die das Fasten vor der Nahrungsaufnahme mit dem Fasten für die Sinne verbinden, indem sie die Seele von schlechten Gedanken befreien. Die einzige Bedingung für dieses Fasten ist, dass alle weltlichen Gedanken aus dem Herzen entfernt werden. Obwohl es sehr schwer ist, diese Stufe zu erreichen, wird es durch die Übung leichter, denn es heißt: Der Geist ist willig, wenn du ihn willig machst, und wenn du ihn zur Genügsamkeit führst, wird er genügsam“.[1]
Dieser Text beschreibt die drei Stufen des Fastens, die von der materiellen zur geistigen Enthaltsamkeit führen sollen, um das Fasten der Körperteile mit dem Fasten der Sinne zu verbinden und schließlich alles außer Gott aus dem Herzen zu entfernen. Diese Beschreibung stammt nicht wie erwartet von einem muslimischen Gelehrten, sondern von einem christlichen gelehrten aus dem 13.714. Jahrhundert, nämlich von Abū l-Faradsch Ibn al-ʿIbrī, Gregorious Bar Hebräus (geb. 1286). Er war das Oberhaupt der syrisch-orthodoxen Kirche, der sogenannten jakobitischen Kirche im Osten im 13. Jahrhundert mit Sitz in Antiochia in der Türkei und in Mossul (Irak). Hier wird eine Form des Fastens beschrieben, die dem muslimischen Fasten sehr ähnlich ist. Wer die Texte von Imam al-Ghazali (gest. 1111) kennt, wird die verblüffende Ähnlichkeit zu seiner Beschreibung der drei Stufen des Fastens in seinem Werk Ihya Ulum ad-din erkennen. Auch dort spricht Ghazali von drei Stufen: Das Fasten der Masse: Enthaltsamkeit von Nahrung und Geschlechtsverkehr. 2. Das Fasten der Besonderen (khawss): Die Enthaltung der Glieder von sündhaftem Verhalten. 3. das Fasten der Besonderen unter den Besonderen (akhass al-khawass): Enthaltung des Herzens von allem außer Gott. Bar Hebräus lebte in einer Region, in der die Werke Ghazalis weit verbreitet waren, so dass er diese Aufteilung gekannt haben könnte. Eine Ähnlichkeit muss aber nicht immer einen Einfluss des einen auf den anderen bedeuten, sondern es kann auch sein, dass man zu unterschiedlichen Zeiten auf ähnliche Ideen gekommen ist. Denn über das körperliche Fasten hinaus Körper und Geist zu reinigen und Gott näher zu kommen, ist ein gemeinsames Ziel aller Religionen. Auch im Christentum gibt es also eine jahrhundertealte Tradition des Fastens, das jedoch in den verschiedenen Kirchen und Regionen unterschiedlich zelebriert wird.
Genau 40 Tage von Aschermittwoch bis Ostern dauert die seit dem vierten Jahrhundert bekannte Fasten- oder Passionszeit. In dieser Zeit gedenken die Christen des Leidens und Sterbens Jesu Christi und bereiten sich auf Ostern, die Botschaft von der Auferstehung, vor. Die Zahl vierzig ist symbolisch zu verstehen. Sie bezieht sich auf die 40 Tage, die Jesus in der Wüste fastete, auf die 40 Tage der Sintflut, auf die 40 Tage, die Mose bei Gott auf dem Berg Sinai war, und auf die 40 Tage, die der Prophet Jona der Stadt Ninive Zeit gab, sich durch Fasten und Buße zu bekehren.
Das christliche Fasten unterscheidet sich jedoch formal vom muslimischen Fasten. In der evangelischen Kirche gibt es z. Bsp. die Aktion 7 Wochen ohne. D.h. 7 Wochen lang sollen Christen auf etwas verzichten, womit man sonst viel Zeit verbringt und was einem besonders im Wege steht, das kann Alkohol sein, bestimmte Gewohnheiten, bestimmte Eigenschaften und Einstellungen, um dadurch sein Leben neu zu überdenken und „Platz für Gott zu schaffen“. Jeder sucht sich also selbst aus, worauf er verzichtet, um sich in der Passionszeit angemessen auf Ostern vorzubereiten. In der katholischen Kirche sind die Gläubigen aufgerufen, am Aschermittwoch und Karsamstag auf Fleisch zu verzichten und nur eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Früher gab es in der Kirche strengere Speisevorschriften, wie zum Beispiel nur eine Mahlzeit am Tag oder das Verbot von Alkohol, Fleisch und anderen tierischen Produkten wie Eier, Milch, Butter und Käse während der gesamten Fastenzeit. Vor allem nach der Reformation im 16. Jahrhundert wurden viele Gebote gelockert, so dass sich heute jeder Gläubige individuell auf Ostern vorbereitet. Eine ritualisierte, festgelegte Form des Fastens wie im Islam kennt das westliche Christentum nicht.
Das Christentum wird aber auch in anderen Teilen der Welt gelebt. In der syrisch-orthodoxen Kirche z.B. kennt man heute noch das ganztägige Fasten in der Woche vor Ostern, bei dem man den ganzen Tag nichts isst und trinkt und am Abend das Fasten mit gesalzenem Brot oder mit Hülsenfrüchten oder Getreide, aber nicht mit tierischen Produkten bricht. Also ähnlich wie bei den Muslimen, aber mit einigen Ergänzungen. In der armenischen Kirche verzichtet man die ganzen 7 Wochen auf tierische Produkte und Erzeugnisse, also man lebt vegan, und manche praktizieren auch das strenge Fasten, wo man bis zum Abend nichts isst und dann das Fasten bricht, das sogenannte strenge Fasten. Wenn man sich den Grundgedanken des Fastens in allen Konfessionen des Christentums anschaut, dann soll das Fasten dazu dienen, Körper, Geist und Seele zu reinigen, Buße zu tun und sich ganz auf Gott zu konzentrieren, Einkehr, Umkehr, Besinnung zu üben. Die Form ist eine andere, aber das Ziel ist dasselbe.
Das entspricht auch dem Koranvers in der Sure Baqara, wo es heißt „Wir haben euch das Fasten vorgeschrieben, wie Wir es denen vor euch vorgeschrieben haben, damit ihr euch Gottes bewusster werdet.“ Der Koran spricht also von einem Fastengebot auch für frühere Völker. Es ist also eine uralte Tradition, die es in fast allen Religionen in unterschiedlicher Form gibt, die aber immer zu einem ähnlichen Ziel führen soll, nämlich zur Gottesnähe. Man verzichtet auf etwas, um eine Veränderung herbeizuführen. Fasten geht über das körperliche, materielle Fasten hinaus, wobei das körperliche Fasten, also der konkrete Verzicht, die Grundlage für diesen Reflexionsprozess bildet. Wie es der christliche Patriarch Gregor im Eingangszitat beschreibt, soll das körperliche Fasten mit dem Fasten der Sinne verbunden werden, um zu einer geistigen, charakterlichen und gemeinschaftlichen Reife zu gelangen. Dieser Grundgedanke zieht sich durch alle Religionen, auch durch den Islam.
Die äußere Hülle und der innere Kern des Fastens
Es gibt also eine rituelle Seite, die äußere Hülle des Ramadan, nämlich das körperliche Fasten, und einen inneren Kern, nämlich die spirituelle Dimension der Selbstreinigung, der Besinnung, des Gottes- und Selbstbewusstseins. Im Gegensatz zu christlichen Fastentraditionen hat sich die körperliche Form des Fastens im Ramadan von den Anfängen des Islam bis heute nicht verändert und wird von allen Muslimen weltweit in gleicher Form praktiziert, nämlich der Verzicht auf Essen, Trinken und Geschlechtsverkehr bzw. Intimität im Monat Ramadan von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang. Dies ist die äußere Hülle, der Beginn und Ausgangspunkt des Fastens, das als untrennbar mit der spirituellen, inneren Dimension und dem Kern betrachtet wird. So bilden Äußeres und Inneres im muslimischen Fasten eine Einheit und sind nicht austauschbar. Ramadan ist also mehr als nur der Verzicht auf Essen, Trinken und Geschlechtsverkehr, sondern er bringt eine gesamte Bandbreite an spirituellen, sozialen und kulturellen Traditionen mit sich, die über die Jahrhunderte hinweg entstanden sind und heute noch entstehen.
Der Verzicht auf Essen und Trinken bildet also nur den Anfang einer spirituellen Reise oder eines Reifeprozesses.
Ich werde mich nun auf die sozialen und spirituellen Dimensionen des Ramadans konzentrieren und dieses Thema anhand meiner eigenen Erfahrungen versuchen etwas darzulegen.
Persönlicher Reifeprozess
Wenn ich meine eigene Erfahrung mit Ramadan Revue passieren lasse über die letzten 30 Jahre dann sehe ich auch bei mir diesen Reifeprozess; dass man allmählich von der äußeren Hülle der Gottesdienste zum inneren Kern vordringt und versucht zu verstehen worum es eigentlich geht.
Ramadan in meiner Kindheit
Als ich in der Kindheit mit dem Fasten begann, lag der Fastenmonat im Winter. Wir erinnern uns: Der religiöse Kalender richtet sich nach dem Mondkalender, der etwa 10 Tage kürzer ist als der Sonnenkalender, weshalb die religiösen Tage jedes Jahr um 10 Tage nach vorne wandern und deshalb zu verschiedenen Jahreszeiten zelebriert werden können. Fasten im Winter bedeutete damals eigentlich nur, das Frühstück etwas vorzuziehen und das Mittagessen ein bisschen zu verschieben, so dass wir um 16-17 Uhr schon das Fasten brechen konnten. Also war es ein optimaler Zeitpunkt für Kinder im Grundschulalter mit dem Fasten zu beginnen und an der Gemeinschaft teilzuhaben. Damals ging es für uns Kinder tatsächlich darum zwischen Morgendämmerung und Sonnenuntergang auf Essen und trinken zu verzichten, das war unsere Hauptmotivation. Von Spiritualität konnte noch nicht viel die Rede sein. Wir waren am Ende des Tages auch stolz einen Tag durchgefastet zu haben. Tagsüber haben wir uns dann voll auf das Abendessen gefreut und Wünsche aufgeschrieben, was man alles essen möchte. Danach ging es mit der gesamten Familie in die Moschee zum Tarawih-Gebet, das spezielle nächtliche Gebet im Ramadan, das etwas länger dauert als das Herkömmliche Nachgebet.
Während die Großen in der Moschee das Tarawih Gebet verrichteten, spielten wir unten in den Seminarräumen der Moschee Fußball mit selbstgebrachten Tennisbällen, wobei die flachen Korantische dabei als Tore dienten. Und wenn die Großen mit dem Gebet fertig waren, gingen wir hoch in den großen Gebetsraum und spielten dort weiter. Bis unsere Eltern uns schweißgebadet nach Hause brachten. Als das Ramadanfest kam, freuten wir uns, dass wir wieder viel Taschengeld und Süßigkeiten bekommen würden. Und wir haben bestimmt 50 Mal am Tag gezählt, wie viel Geld wir an einem Tag verdient haben. Wir hatten damals keine Dekoration oder ähnliche pädagogische Mittel, um die Kinder an den Ramadan heranzuführen, sondern wir waren einfach dabei und mittendrin.
Das waren meine ersten Ramadanerfahrungen. Also ein vorreflexives Nachahmen und Mitmachen von Ritualen und ein natürliches Hineinwachsen in die Gemeinschaft. Wie wichtig diese naiven, kindlichen Erfahrungen jedoch sind, merkt man erst später.
Spenden, Helfen und Zusammensein. Soziale Dimension des Ramadan
Im Laufe der Zeit, je älter man wird, lernt man verschiedene andere Dimensionen kennen, z.B. die soziale Dimension, den Blick für den Anderen. Dass es im Ramadan vor allem auch um gelebte Solidarität und das Miteinander geht, indem man Verwandte in der Ferne anruft, Bekannte besucht, mit Nachbarn, Freunden, Bekannten gemeinsam das Fastenbrechen begeht, teilen lernt, finanziell Bedürftigen hilft, möglichst viel spendet. Der Ramadan ist die Zeit, in der Muslime am meisten spenden. Der Ramadan ist also nicht nur ein individuelles spirituelles Ereignis, sondern auch ein Monat, der die gemeinschaftliche Solidarität stärken soll. Es wird auch berichtet, dass der Prophet Muhammad, Gottes Segen und Frieden seien auf ihm, im Ramadan noch freigiebiger war, als er es ohnehin schon war.
Neben dem allgemeinen Aufruf viel zu spenden, gibt es auch spezielle Spendenaktionen für den Ramadan, wie z.B. die Iftar-Pakete, d.h. Lebensmittelpakete, die Familien während des Ramadans einen Monat lang mit Mahlzeiten versorgen. Es geht also darum, möglichst viele an der Freude teilhaben zu lassen.
Besonders beeindruckt hatte mich damals die Spende zum Ramadanfest, zakat al-fitr genannt, also die Spende, die vor dem Ramadanfest zu entrichten ist. Was ist das für eine Spende? Zum Ramadanfest werden die schönsten Kleider ausgepackt oder neue gekauft und es gibt ein Festmahl mit der Familie, um den Tag besonders zu würdigen. Doch Millionen Menschen haben diese Möglichkeit nicht. Die obligatorische Spende zum Ramadanfest für Bedürftige, deren Höhe genau festgelegt ist, soll genau diesen bedürftigen Menschen ermöglichen, sich zum Fest eine Freude zu machen. Neben dem allgemeinen Aufruf, zu spenden und großzügig zu sein, gibt es also eine besondere Form der Spende, die man speziell zu diesem Anlass geben muss. Das hat mich als Kind und Jugendlicher sehr beeindruckt. Ramadan stiftet also Gemeinschaft!
Spirituelle Dimension
Später, während der Studienzeit zum Beispiel, kam die spirituelle Dimension hinzu, die innere Einkehr und Selbstreflexion. Man beginnt, über eigene Fehler nachzudenken, sich Vorsätze zu fassen, man reflektiert intensiver als früher über das eigene Leben. Der Ramadan ist auch der Monat des Korans. Viele Muslime versuchen, im Monat Ramadan den gesamten Koran einmal zu rezitieren. Entweder alleine oder zusammen mit anderen Gläubigen in der Moschee. Auch ich habe in dieser Zeit begonnen, mich noch intensiver mit dem Koran zu beschäftigen, ich habe es nicht immer geschafft, den ganzen Koran durchzuarbeiten, meine Eltern waren und sind in dieser Hinsicht konsequenter. Ich habe es vorgezogen, jeden Tag eine andere Stelle aus dem Qur’an herauszugreifen und mich intensiver damit zu beschäftigen und so zu versuchen, diese Zeit auch spirituell besser zu nutzen und meine Beschäftigung mit dem Koran zu vertiefen.
Der Ramadan führt zur Selbstreflexion und soll uns spirituell wachsen lassen.
Im Koran heißt es: „Wir haben euch das Fasten vorgeschrieben, damit ihr euch Gottes bewusster werdet. Das Wort taqwa kann sicherlich unterschiedlich übersetzt werden und ist ein sehr komplexes und vielschichtiges Wort. Zum Teil wird es mit Gottesfurcht übersetzt oder mit Frömmigkeit oder neuerdings auch mit Gottesachtsamkeit. Da steckt der Gedanke des Schutzes drin, z.B. sich vor schlechten Einflüssen, Übertretungen oder Verfehlungen zu schützen, indem man achtsam ist. Achtsam sein und sich immer wieder bewusst machen, dass man in der Gegenwart Gottes ist und dadurch dieses Bewusstsein verinnerlichen, was wiederum automatisch vor Verfehlungen und Sünden schützen soll.
Gottesbewusster zu werden bedeutet auch, sich seiner selbst bewusster zu werden, denn durch das Fasten, durch den Verzicht auf alles Elementare lernt man auch den eigenen Körper und damit die eigenen Grenzen besser kennen. Das Angebot Gottes, zu fasten, um Gott bewusster zu werden, ist eigentlich eine Chance, sich selbst besser kennen zu lernen, selbst-bewusster zu werden, selbst-bewusster zu leben und zu handeln.
Unser Prophet sagte über den Sinn des Fastens: „Für Gott hat es keine Bedeutung, dass derjenige, der nicht auf Lüge und Betrug verzichtet, sich des Essens und Trinkens enthält.“ Gebote sind also kein Selbstzweck, sondern dazu da, den Menschen gut zu machen. Der Verzicht soll zu einer positiven Veränderung führen. In einem anderen Hadith heißt es: „Das Fasten ist ein Schutzschild. Wer dich beleidigt oder angreift, dem sage nur: Ich faste.“ Es geht nicht nur darum, sich des Essens und Trinkens zu enthalten, sondern es geht vor allem darum, Selbstbeherrschung zu lernen, Zorn, Aggression und Ärger zu kontrollieren, sich zu zügeln, emotional abzurüsten. Fasten ist also vor allem auch ein charakterlicher Reifeprozess! Ein Prozess der Selbstfindung.
Ramadan im Hochsommer
Während meiner Promotionsphase fiel der Ramadan in die heißen Sommermonate, in denen wir teilweise bis 22 Uhr fasten mussten. Das war eine ganz neue Erfahrung, die zwar sehr anstrengend sein konnte, aber spirituell sehr bereichernd war, weil man die Grenzen des eigenen Körpers in solchen Situationen besser kennen lernt und sich viel intensiver auf das Wesentliche konzentrieren kann. Auf der anderen Seite gab es kontroverse theologische Diskussionen, ob es noch zeitgemäß sei, so lange zu fasten. Es sei zu formalistisch, man solle nicht länger als 18 Stunden fasten, das Ziel sei wichtiger als die Form.
Für die meisten Muslime ist aber die formale Einhaltung des Gebotes ein Teil des spirituellen Reifeprozesses, den man nicht einfach beiseiteschieben kann, nur weil es etwas anstrengend wird. Die meisten Muslime haben erkannt, dass es für gesunde Menschen durchaus möglich ist, bis 22 Uhr zu fasten. Ja, Fasten kann verdammt anstrengend sein und war es auch. Aber es ist auch eine ganz besondere Erfahrung. Für Schwangere, stillende Mütter, Diabetiker oder schwächere Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht fasten konnten oder durften, gab es die Möglichkeit, den Ramadan mit anderen Aktivitäten zu verbringen, z.B. vermehrt den Koran zu lesen, zu beten oder zu spenden.
In dieser Zeit wurde ich auch immer häufiger als Referent zu Iftar-Veranstaltungen eingeladen von Hochschulgemeinden, zu interreligiösen Fastenbrechen, etc. bei denen ich häufig über die verschiedenen Dimensionen des Ramadans über Spiritualität und andere Themen referiert habe. Es gab verschiedene Aktionen wie Green iftar, Fair fasten, Fastenbrechen ohne Plastik, Benefiz Fastenbrechen. Über die Jahre hinweg habe ich gemerkt, dass die Iftarabende mittlerweile zu einer deutschen Tradition geworden sind, wo sich Muslime und Nichtmuslime treffen, und wozu man sich gegenseitig einlädt. Ramadan schafft Begegnung!
Auch kein Wasser?
Aber die Frage aller Fragen im Ramadan, dem Evergreen des Fastens, vor allem in den Sommermonaten: „Auch kein Wasser?“ Nein, auch kein Wasser! Diese Frage hat mich tatsächlich über die Jahre bis heute begleitet. Früher hat mich diese Frage öfter genervt, weil mich jedes Jahr die gleichen Leute gefragt haben, ob ich auch kein Wasser trinken darf. Irgendwann habe ich aber gemerkt, dass die allermeisten gar keine Hintergedanken haben, sondern es einfach nur verstehen wollen. Richtig nervig wird es aber, wenn nach dieser Frage der blöde Kommentar kommt: Das ist aber ungesund? Als ob wir Muslime nicht einschätzen könnten, was gesund und was ungesund ist, möchte ich immer wieder sagen. Seit 1400 Jahren wird gefastet und ich kenne eigentlich niemanden, der vom Fasten gestorben ist. Es ist nicht die Frage an sich, die stört, sondern die Art und Weise, wie manche in besserwisserischer, oberlehrerhafter Manier auftreten und den Muslimen endlich beibringen wollen, dass Fasten ungesund ist. Inzwischen gibt es zahlreiche Studien, die besagen, dass das Fasten, wie es die Muslime praktizieren (im modernen Sprachgebrauch auch Intervallfasten oder Trockenfasten genannt), sehr gesundheitsfördernd ist und deshalb auch vielen empfohlen wird; aber das ist den allermeisten egal, etwas religiös Motiviertes kann für extrem säkularisierte Menschen einfach nicht gut oder gesund sein und bleibt deshalb etwas Irrationales, Archaisches.
Insgesamt sind wir als Gesellschaft religiös noch sehr unmusikalisch und können oft nicht nachvollziehen, warum Menschen aus religiösen Gründen bestimmte Rituale vollziehen. Hier haben wir noch einen enormen Nachholbedarf.
Gerade im schulischen Kontext wurde das Thema Fasten immer wieder problematisiert, vor allem in den letzten Jahren, als der Fastenmonat noch in die wärmeren Monate fiel. Anstatt den Schülerinnen und Schülern Wertschätzung entgegenzubringen, ihnen zum Ramadan zu gratulieren, wurde das Fasten oft schlecht geredet mit Sätzen wie: So lange zu fasten und nichts zu trinken sei ungesund, etc. Solche paternalistischen Bemerkungen hörte man nicht nur von Lehrerinnen und Lehrern, sondern auch von Politikerinnen und Politikern aller Couleur, die die armen muslimischen Kinder vor ihren bösen Eltern schützen wollen. Als ob muslimische Eltern nicht auf das Wohl ihrer Kinder achten würden. Dabei sind es oft die Kinder selbst, die bei den gemeinsamen Ritualen und Mahlzeiten frühmorgens und bei Sonnenuntergang dabei sein, dazugehören wollen. Ich weiß noch, wie ich mit meiner Mutter geschimpft habe, warum sie mich nachts nicht zum Frühstück weckte. Und als sie es dann doch tat, habe ich wieder geschimpft, warum sie mich so früh weckt. Jetzt machen meine Kinder dasselbe. Also an alle Lehrerinnen und Lehrer, fragt die Kinder nach dem Ramadan, gratuliert ihnen, gebt ihnen das Gefühl, dass ihre religiösen Feste genauso dazugehören wie die christlichen.
Ramadan als Eltern
In jedem Ramadan kommt eine weitere Komponente hinzu. Nun wo man Eltern ist und die Kinder an den Ramadan heranführen will, legt man Wert, dass Kinder spüren, dass wir in einer besonderen Zeit sind. In dem man Lichterketten oder Dekorationen anbringt, die Häuser schmückt, gemeinsam für den Ramadan bastelt, versucht man die Kinder auf diese besondere Zeit vorzubereiten. Und ja, wir haben auch den Ramadankalender bei uns zuhause. Das sind übrigens typisch deutsche Ramadantraditionen, die es so woanders in dieser Form nicht gibt. Es entwickeln sich also auch spezifisch deutsche Fastentraditionen. Da das Fastenbrechen ziemlich spät für die Kinder anbricht, werden Kinder langsam an das Fasten und an die Rituale herangeführt, in dem sie nicht bis zum Abendgebet, sondern bis zum Nachmittagsgebet fasten und dann gibt es gemeinsam mit den Freunden ein Fastenbrechen für Kinder, aber nicht am Abend, sondern am Nachmittag. Und wenn das Ramadan-Fest näher rückt, werden mit den Kindern Kekse gebacken, und zwar in Förmchen, die den Fastenmonat Ramadan symbolisieren. Es sind also immer neue Aspekte, die dazukommen.
Und wenn der Ramadan sich alljährlich dem Ende neigt, löst das unterschiedliche Gefühle aus. Einerseits freut man sich, dass bald wieder der normale Alltag einkehrt, sprich mit der gesamten Familie normal Frühstücken zu können am Morgen, oder Mittags mal einen Kaffee zu genießen, alles was man so vermisst im Ramadan. Oder ganz einfach wenn die Kinder wieder zu ihrem Schlafrythmus zurückfinden. Der Mensch bleibt eben Mensch. Einen weiteren Monat zu fasten, wäre wahrscheinlich zu viel gewesen.
Aber auf der anderen Seite weiß man, dass man all diese schönen Erfahrungen im Ramadan vermissen wird, weil es ein besonderer Monat ist. Deshalb gibt es bei vielen eine melancholische Stimmung, wenn die letzten Tage einbrechen. Die Selbstreflexion nimmt zu, man denkt intensiver als bisher über das Erlebte nach.
I’tikaf Klausur
Deshalb gibt es gerade für diese Zeit die Tradition des itikaf, d.h. die letzten zehn Tage in der Moschee in Klausur zu verbringen, um noch einmal intensiver über das bisher Erlebte nachzudenken. Eine jahrhundertealte Praxis, die auf den Propheten Muhammad zurückgeht. Man verbringt tatsächlich 24 Stunden dort, ohne nach Hause zu gehen, und erst am letzten Tag vor dem Ramadanfest verlässt man die Klausur in der Moschee.
Warum zieht man sich in den letzten zehn Tagen zurück? Das hat wiederum mit der Nacht der Bestimmung (laylat al-Qadr) zu tun, der wichtigsten Nacht im Monat Ramadan. In dieser Nacht wurde der Koran zum ersten Mal auf den Propheten herabgesandt, deshalb wird diese Nacht im Koran besonders geehrt und es heißt, sie sei besser und segensreicher als 1000 Monate. Leider wissen wir nicht, wann die Nacht der Bestimmung genau ist, aber der Prophet sagte, dass wir sie in den letzten zehn Tagen suchen sollen. Deshalb ziehen wir uns in den letzten zehn Tagen stärker zurück und intensivieren die Reflexion. Was geschah in dieser Nacht? Im Jahre 610, kurz vor der Prophezeiung, hatte sich der Prophet in den letzten 5 Jahren immer mehr in eine Höhle außerhalb der Stadt zurückgezogen, um zu meditieren, nachzudenken und zu beten. Im Alter von 40 Jahren intensivierte er seine Besuche und verbrachte mehrere Wochen ununterbrochen in dieser Höhle. Er befand sich also in einem Zustand völliger Abgeschiedenheit, Weltentsagung, Zurückgezogenheit, er ließ alles Weltliche hinter sich, um sich dem Göttlichen zu öffnen. Genau in diesem Moment der völligen Weltabgewandtheit kam eines Nachts der Erzengel Gabriel zu ihm, als er sich fern von den Menschenmassen ganz oben auf dem Berg in einer kleinen Höhle befand, und überbrachte ihm die ersten Verse des Korans. Der Rückzug in eine Moschee während der letzten zehn Tage soll diesen Aufenthalt des Propheten in der Höhle symbolisch nachahmen. Durch die intensive Konzentration und den Rückzug von der Welt soll man Herz und Seele für die göttliche Botschaft öffnen und dadurch gottes- und selbstbewusster werden. Dieser Gedanke, den Zustand des Propheten in der Höhle nachempfinden zu können, spielt auch beim Itikaf eine Rolle.
Natürlich ist diese Tradition aufgrund unserer heutigen Lebensumstände nicht in vollem Umfang umsetzbar, aber für einige Tage oder zumindest für einen Tag in Klausur zu gehen, gibt einem noch einmal die Möglichkeit, über das Erlebte nachzudenken.
Ramadan ist etwas Besonderes
Was ich damit sagen will, ist, dass der Monat Ramadan trotz aller festgelegten Rituale eine sehr individuelle Erfahrung ist, die jeder anders erlebt. Man kann den Ramadan also nicht nur auf den Verzicht von Essen und Trinken reduzieren. Es ist viel mehr als das. Der Verzicht ist der Ausgangspunkt für einen spirituellen, individuellen und gemeinschaftlichen Reifeprozess. Das Fasten ist also kein isoliertes Phänomen, sondern eingebettet in ein religiös-soziales Gefüge, in dem sich die individuelle Erfahrung des Fastens mit der gemeinschaftlichen Erfahrung verbindet. So soll der Ramadan die Beziehung zu sich selbst, zum Schöpfer, zur Gemeinschaft und zur Gesellschaft im weiteren Sinne stärken und fördern.
Nicht jeder Muslime begeht den Ramadan auf gleiche Art. Es gibt auch eine Gruppe an Muslimen, die wenig bis gar nicht fastet. Die Säkularisierung geht nicht spurlos an den Muslimen vorbei. Viele andere sehen den Ramadan als etwas Kulturelles und nicht etwas spirituell-religiöses; sie erfreuen sich an dem geselligen und an den sozialen und kulturellen Traditionen, das zeigt sich daran, dass man zwar nicht fastet, aber am fastenbrechen teilnimmt. Und wiederum andere sehen es tatsächlich als eine reine Pflichterfüllung, ohne über den tieferen Sinn nachzudenken. Das heißt, der Ramadan bietet die Chance spirituell, charakterlich und gemeinschaftlich zu wachsen zu reifen, und er bringt eine ganze Bandbreite an rituellen, kulturellen und sozialen Traditionen mit sich. Jeder nimmt den Ramadan aber anders war; Manch einer braucht die Gemeinschaft, ein anderer die spirituelle Einsamkeit, ein anderer die Unterhaltung und Geselligkeit oder alles zusammen.
Während wir uns auf die Besonderheiten des Ramadans einlassen können, müssen andere Muslime in Kriegsgebieten wie in der Ukraine oder vor allem in Gaza den Ramadan in ständiger Angst begehen. Mehr als zwei Millionen Menschen, die ihre Häuser, Kinder, Verwandte oder Eltern verloren haben, begehen den Fastenmonat traumatisiert in Zelten oder Notunterkünften, haben teilweise nichts zu essen und befinden sich daher in einem permanenten Fastenzustand. Sie versuchen, durch den Ramadan wieder Kraft und Hoffnung zu schöpfen. Für sie hat der Ramadan eine ganz andere Dimension, dass es trotz größter Katastrophen wieder weitergeht. Und besonders an diese Menschen müssen wir im Ramadan besonders denken und sie in unsere Gebete und Solidarität einschließen.
Sie haben sicher verstanden, dass es beim Fasten im Monat Ramadan nicht nur um den Verzicht auf Essen und Trinken geht. Durch den Verzicht wird jede Sekunde zu einem Gottesdienst und erfährt eine tiefe spirituelle Wandlung.
Der Ramadan bringt einen ganzen Kosmos an spirituellen, sozialen und kulturellen Erfahrungsmöglichkeiten mit sich und hat eigentlich immer für jeden etwas Besonderes zu bieten. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein gesegnetes Ramadanfest, verbunden mit der Hoffnung, auch im nächsten Jahr den Ramadan begrüßen zu dürfen.
[1] Mor Ignatius Zakka I. Iwas. Das Fasten in der Syrisch-Orthodoxen Kirche.
In: The Patriarchal Journal of the Syrian Orthodox Patriarchate of Antioch and All of the East, Nr. 104, (Damascus 1991), S. 178-196. (Übersetzt v.: Amill Gorgis). Die Übersetzung ist sprachlich leicht überarbeitet.
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