Während in Anlehnung an Paul Ricoeur die Verdachtshermeneutik eher für eine traditionskritische Ausrichtung steht, wird die Vertrauenshermeneutik meist als eine traditionsbewahrende Ausrichtung verstanden, wie sie paradigmatisch von Hans Georg Gadamer vertreten wurde. Mein Ansatz war es zwischen diesen beiden zu vermitteln und einen bewahrenden Umgang mit einem kritischen zu kombinieren, deshalb „kritische Vertrauenshermeneutik“. Serdar Kurnaz These, dass die beiden Begriffe Vertrauen und Verdacht der komplexen Tradition nicht gerecht werden, stimme ich insofern zu, als dass eine reine Verdachts- und reine Vertrauenshermeneutik nicht ausreichen. Er übersieht aber, dass ich gerade deshalb ja eine vermittelnde Position vorgeschlagen habe. Also eine Vertrauenshermeneutik flankiert mit einer Traditionskritik im Sinne der Wahrheitsfindung.
Taliban, Deobandi, Diyanet – Alles Hanafiten?
Eine bewusste Hinwendung zu einer Tradition muss nicht immer mit einer bloßen Wiederholung der Inhalte einhergehen. Sie kann ein dynamisierendes Potenzial freisetzen oder aber auch stark konservative Züge annehmen. Die beteiligten Akteure, allen voran die Gelehrten, beziehen sich immer wieder auf ihre Umwelt und interpretieren, ordnen und systematisieren Traditionsbestände neu, legen einen neuen Fokus, erweitern oder grenzen den Diskursbereich ein, wodurch die Tradition transformiert und neu geschaffen wird. Qasim Zaman hat eindrucksvoll gezeigt, dass der Bezug zur Traditionin den Gelehrtendiskursen nicht immer etwas Statisches ist, sondern ein lebendiges Konzept, in dem die Praktiken der Gegenwart über einen Bezug zu einer Vergangenheit ausgehandelt werden. Die Grenzen und Möglichkeiten eines solchen Prozesses hängen von vielen internen und externen Faktoren ab. Je nach den sozialen, ökonomischen und politischen Kontexten kann ein Traditionalismus entweder dynamisierende oder konservative Züge beinhalten.
Und dann ging’s bergab! Niedergangsparadigma im islamischen Recht
Mittlerweile ist die Dekadenztheorie, wonach die islamische Welt nach einer Blüte in eine Phase der Erstarrung und des Niedergangs gerät, in der Wissenschaft schon längst überholt und wird in dieser Form kaum noch in der Fachwelt vertreten. In der populärwissenschaftlichen Literatur ist sie aber weiterhin noch dominant. Im Folgenden soll das Niedergangsparadigma im islamischen Recht behandelt werden und die weitverbreitete Periodisierung der islamischen Rechtsgeschichte seitens muslimischer Reformdenker im 20. Jahrhundert dargestellt werden.
Hagia Sophia (Teil 3) – Christen, Juden und Muslime vor dem Schariagericht
Die direkte Interaktion zwischen Juden, Christen und Muslimen in alltäglichen wirtschaftlichen Unternehmungen sowie auch im nachbarschaftlichen Umgang führte dazu, dass Muslime und Nichtmuslime ihre Handels- und Kaufgeschäfte sowie ihre Streitigkeiten und notariellen Beurkundungen gemeinsam vor dem Kadigericht erledigten, wozu wir unzählige Gerichtsprotokolle haben. Wie aus diesen Protokollen ersichtlich wird, war es ganz normal, dass Muslime ihre Häuser oder Grundstücke an Juden oder Christen oder umgekehrt Nichtmuslime ihre Immobilien an Muslime verkauften oder vermieteten, sie sich gegenseitig Kredit gaben oder Geschäftspartner waren.
Hagia Sophia (Teil 2): Der religiöse Pluralismus im Osmanischen Reich nach 1453
Etwa 100 Jahre später also hat sich der Traum von Sultan Mehmed II. verwirklicht und Qustantiniyya wurde zu einer kosmopolitischen Weltstadt mit Menschen aus allen Weltgegenden. Zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert betrug die Anzahl der Nichtmuslime (darunter verschiedene christliche und jüdische Denominationen) in Istanbul immer konstant zwischen 40 und 45%, was auch den Durchschnitt im gesamten Reich repräsentierte.
Hagia Sophia→Ayasofya: Ist das islamisch? Eine historische Skizze!
Die Stadt Konstantinopel wurde von den Osmanen nach einer fast zweimonatigen Belagerung am 29. Mai 1453 kriegerisch eingenommen. Die Frage, ob eine Stadt kriegerisch (ʿanwatan) oder auf friedlichem Wege durch Vertrag (sulhan) eingenommen wurde, hatte nach dem islamischen Recht konkrete rechtliche Konsequenzen für das eroberte Gebiet. Eine historische Skizze!
Fuat Sezgin und die Wissenschaftsgeschichte ohne Lücken
„Ich habe getan, was jedermann in seinem Beruf tun sollte: Die Leistungen der Vorgänger mit Dankbarkeit entgegennehmen, etwaige Fehler ohne Scheu verbessern und, was bewahrenswert erscheint, den Nachfolgern und späteren Generationen weitergeben.“
War John Locke ein Hanafit? Die Theorie der Naturrechte und ihre Ursprünge!
In der Geschichte der universalen Menschenrechte gilt John Locke (gest. 1703) als der erste, der die drei Grundrechte Leben, Freiheit und Eigentum als naturrechtliche Grundsätze formulierte und damit die Grundlage für die universale Menschenrechtsidee legte. Die Idee einer naturrechtlichen Grundlegung der Grundrechte aber, lässt sich zumindest schon im 11. Jahrhundert in der hanafitischen fiqh-Literatur belegen.... Weiterlesen →
Sind Christen Ungläubige?
Eines der Worte, das in letzter Zeit in die deutsche Sprache eingewandert ist, ist das arabische Wort „Kafir“. Im Duden steht dazu: „(im Islam) jemand, der nicht dem islamischen Glauben angehört“. Gebrauch: „abwertend“. Im Deutschen wird „kafir“, Plural: „kuffar“, in der Regel mit „ungläubig“ wiedergegeben. Ist das eine zutreffende Übersetzung? Wie stehen Muslime zu Menschen,... Weiterlesen →
Averroes als Salafist! Warum Ibn Rušd in der islamischen Welt keine Berücksichtigung fand?
Die Erzählung vom „Goldenen Zeitalter“ und „Niedergang“ der islamischen Philosophie In der gängigen Historiographie der islamischen Philosophie wird die Zeit vom 9.-11. Jahrhundert als das goldene Zeitalter des philosophischen Denkens im Islam dargestellt, an dessen Höhepunkt sich das geistige Schaffen Ibn Sīnās (gest. 1037) befindet. Mit der Machtübernahme der Seldschuken in Bagdad und den philosophie-kritischen... Weiterlesen →
David Nirenberg, Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens.
Rezension: David Nirenberg, Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, C.H. Beck, München 2015, 587 Seiten. Nirenberg stellt die kritische Frage, wie es sein konnte, dass in der Mitte des 20. Jahrhunderts viele der gebildetsten Bürger der Welt bereit waren zu glauben, dass die Juden eine so große Gefahr für die Welt seien, dass sie... Weiterlesen →
Jüdisch-muslimische Beziehungen in Geschichte und Gegenwart
BEGEGNUNG VON JUDEN UND MUSLIMEN IM ‚MITTELALTER' Diese schöne Geschichte von einem Juden wurde mir von Musa ibn Muhammad al-Qabbab aus Cordoba berichtet, dem Muezzin in der heiligen Moschee in Mekka - möge Gott sich seiner erbarmen. Es war das Jahr 599 [nach der Hidschra/1203 n.Chr.]. Er erzählte mir von einem Mann aus Kairouan, der... Weiterlesen →
Muslimische Geschichte in Sizilien
Mein Sizilien. Der hoffnungslose SchmerzWiederholt sich für dich in der ErinnerungJugend. Ich sehe die verlorenen glücklichen VerrücktheitenUnd die wundervollen Freunde wieder.Oh Paradies, aus dem ich vertrieben wurde!Was nützt es, sich an deinen Glanz zu erinnern?[1]Anzeige Als der normannische Heeresführer Robert Guiscard die Streitigkeiten zwischen den muslimischen Fürsten in Sizilien ausnutzte, um 1061 die Stadt Messina... Weiterlesen →
Historische und zeitgenössische Lesart des Korans
In diesem Artikel* geht es um eine Gegenüberstellung der zeitgenössischen und klassischen Herangehensweisen die heiligen Texte des Islam zu interpretieren. Im Fokus steht die Frage, inwiefern zeitgenössische Reformansätze mit den klassischen, vormodernen Ansätzen im Bereich der islamischen Theologie vergleichbar sind und wie sie zu verorten sind. Wenn wir mit der historischen Lesart konkret die Ansätze... Weiterlesen →