Rezension: Rüdiger Lohlker, Islamisches Recht, Wien: facultas wuv / UTB 2012, 263 Seiten.
Abdurrahim Kozalı / Hakkı Arslan

Im Folgenden soll das im Jahre 2012 im UTB-Verlag veröffentlichte Buch Islamisches Recht von Rüdiger Lohlker besprochen werden. Rüdiger Lohlker beschäftigt sich als ein ausgewiesener Experte seit über 20 Jahren mit dem islamischen Recht und hat bereits zahlreiche Monografien zu verschiedenen Themen im islamrechtlichen Bereich veröffentlicht. In dem zu besprechenden Werk handelt es sich jedoch nicht – wie der Titel suggeriert – um eine allgemeine Einführung in das islamische Recht an sich, sondern vielmehr um eine Reflexion über die theoretischen und methodologischen Grundlagen des islamischen Rechts, also uṣūl al-fiqh. „Dieses Buch […] soll in die Methoden einführen, die islamische Gelehrte, die sich mit der Scharia und dem fiqh beschäftigten, verwendet haben, um ihre Aufgabe zu erfüllen“ (S. 7). Weiterhin „handelt [es] sich bei diesen Untersuchungen nicht nur um eine Darstellung wichtiger Elemente der uṣūl al-fiqh; es sind auch Reflexionen über und ausgehend von den ‚Wurzeln‘“ (S. 9).
Die uṣūl al-fiqh wird in diesem Buch jedoch nicht systematisch, lehrbuchartig dargestellt, sondern anhand verschiedener Themen und Diskurse theoretisch reflektiert. Dabei greift Lohlker insbesondere auf das Rhizom-Modell von Deleuze und Guattari zurück (S. 40ff.), um die verschiedenen Literaturgattungen und Diskurse des islamischen Rechtsdenkens darzustellen. „Dieses Buch ist eine Verkettung von Verkettungen, ein Nachverfolgen von De- und Reterritorialisierungsbewegungen, eine Neufaltung von Falten“ (S. 9). Der Autor bezieht sich in dem Buch weitestgehend auf den historischen Rahmen und konzentriert sich dabei sehr stark auf den sunnitischen Diskurs. Zeitgenössische sowie schiitische Positionen werden nur am Rande erwähnt.
Das 263-seitige Buch umfasst acht Kapitel und ist folgendermaßen strukturiert: Lohlker beginnt zunächst mit der Klärung der Kernbegriffe des islamischen Rechts (uṣūl al-fiqh, fiqh, faqīh, iǧtihād, taqlīd, iǧmāʿ, qiyās, fatwā, etc.), mit besonderem Schwerpunkt auf den Begriffen Scharia und Fiqh. Die Scharia sei die Gesamtheit der göttlichen Normen, wobei fiqh das menschliche Verständnis der Scharia umfasse. Da die Scharia jedoch in ihrer Gesamtheit für den Menschen nicht erfassbar sei, könne es sich bei fiqh bestenfalls um eine bestmögliche Annäherung an die Kenntnis der göttlichen Norm handeln, was notwendigerweise Meinungsverschiedenheiten mit sich bringe. Im zweiten Kapitel behandelt Lohlker ausführlich das Verhältnis zwischen islamischem Recht und Säkularität, wobei er zwischen einer juridischen und ethisch-religiösen Logik unterscheidet. Die muslimischen Juristen hätten eine für die juristische Argumentation spezielle Logik entwickelt, welche nicht immer mit religiös-moralischen Ansprüchen kompatibel gewesen sei. Die doppelte
Logik sei bis zur Moderne beibehalten worden. Die zwischen juridischer und ethisch-religiöser Logik existierende Spannung bilde – in Anlehnung an Baber Johansen – „die Grundlage für die praktische Säkularisierung weiter Teile der gerichtsverbindlicher Normen“ (S. 21). Den Säkularitätsdiskurs im islamischen Recht versucht Lohlker auf den nachfolgenden Seiten anhand verschiedener Textgattungen (Richter- und Formularhandbücher, Lehrgedichte) und Gesellschaftsebenen (Herrscher, Gelehrte und Nichtmuslime) nachzuzeichnen. Dabei betont er, dass die Handbücher des islamischen Rechts und insbesondere die der Rechtsmethodik nicht – wie in der zeitgenössischen Literatur oft angenommen – fern vom tatsächlichen Rechtsleben produziert worden seien, sondern mitten aus der Realität heraus, und deshalb die Diskurse in den jeweiligen Gesellschaften widerspiegelten (S. 25ff.). Im dritten Kapitel – „Strukturen von Rechtswerken“ – versucht Lohlker auf eine sehr spannende Art und Weise die Strukturen und Funktionsweisen der Literaturtypen matn, šarḥ, ḥāšiya, taʿlīq sowie die verschiedenen Disziplinen innerhalb des islamischen Rechts (qawāʿid, dawābit ašbah wa n-naẓāʾir, furūq) nachzuzeichnen. Dabei verwendet er das oben bereits erwähnte RhizomModell von Deleuze und Guattari. In den beiden nachfolgenden Kapiteln geht es um die historische Darstellung der uṣūl al-fiqh sowie über die theologischen Grundfragen schariatischer Beurteilungen (aḥkām).
Die beiden letzten Kapitel sind die längsten und bilden das Herzstück des Werkes. Das vorletzte Kapitel (67 Seiten) – „Texte, Absichten und Techniken“ – behandelt einen Großteil des methodischen und erkenntnistheoretischen Instrumentariums der Rechtsgelehrten, das sie bei der Formulierung von Rechtsnormen verwendet haben. Besonders ausführlich werden berechtigterweise die sprachtheoretischen Aspekte besprochen, da sie in den uṣūl al-fiqh-Werken den größten Platz
einnehmen. Anschließend werden die verschiedenen Ableitungsformen und Methoden (qiyās, ḥiyal, istiḥsān, ruḫsa, sadd aḏ-̣ ḏaṛ āʾiʿ, istiṣḥāb, maqāṣid, maṣlaḥa, ʿurf, ʿāda) in aller Kürze, aber fachgerecht präsentiert. Das letzte Kapitel schließlich beschäftigt sich mit dem Rechtsgelehrten (muǧtahid) selbst und vor allem auch mit der Frage des iǧtihād. Lohlker geht kritisch auf die Diskussionen zur Frage, ob das Tor des iǧtihād geschlossen sei, ein und vertritt im Großen und Ganzen die Position
Wael Hallaqs, wonach der iǧtihād durchgehend in der islamischen Rechtsgeschichte praktiziert wurde (allerdings in verschiedenen Abstufungen) und die Theorie der Schließung des Tors des iǧtihād nicht die historische Realität des islamischen Rechts wiedergebe, sondern auf die Reformbewegungen aus dem 19. Jahrhundert zurückgehe (S. 187ff.). Einigen praktischen Beispielen aus der iǧtihād-Praxis der Rechtsgelehrten folgen theoretische Erwägungen über Gewissheit, Autorität, iǧmāʿ sowie eine Überblicksdarstellung über das Verhältnis zwischen fatwā, furūʿ und uṣūl al-fiqh. Lohlker stützt sich bei seinen Darstellungen sowohl auf Vorarbeiten verschiedener Autoren (u.a. Baber Johansen, Wael Hallaq, Thomas Bauer) als auch auf klassische Werke verschiedener Gattungen der juristischen Literatur, die er passagenweise selbst übersetzt und als Argumentationsgrundlage in sein Werk integriert hat, was die Arbeit besonders bereichert. Ähnlich wie Thomas Bauer in seinem bahnbrechenden Werk Kultur der Ambiguität betont auch Lohlker die lebendige Diskussionskultur und Vielschichtigkeit der klassisch-islamischen Literatur (S. 8), die er anhand verschiedener Diskurse auf überzeugende Art und Weise darstellt. Die klassisch-islamische Literatur, die sich ab dem 12. Jhd. durch Kommentare, Subkommentare, Glossen und Kurzfassungen weiterentwickelt habe, sei durch die verschiedenen Defizitanalysen zeitgenössischer muslimischer sowie nichtmuslimischer Gelehrsamkeit insgesamt in ein negatives Licht gestellt und als unproduktives Wiederkauen älterer Werke beschrieben worden. Diese Sichtweise würde den Blick in diese sehr fruchtbar und vielseitig geführten Diskurse in den klassischen Werken versperren (S. 43ff.). Insgesamt umfasst das Buch Islamisches Recht eine sehr gelungene Darstellung der theoretischen Diskussionen rund um den Bereich der uṣūl al-fiqh. Es präsentiert die in den klassischen fiqh-Werken enthaltene komplexe, tiefgründige und lebendige Diskussionskultur und verweist auf Forschungslücken sowie Fragestellungen, die sich aus den einzelnen Ausführungen ergeben. Das Buch ist jedoch nicht systematisch genug, um als Lehrbuch für das Fachgebiet uṣūl al-fiqh dienen zu können. Es ist vielmehr als eine Begleitlektüre für ein besseres Verständnis des gesamten rechtstheoretischen und methodischen Diskurses zu betrachten. Die teils sehr lockere und unsystematisch erscheinende Bearbeitung einzelner Themen ist auf die Intention des Autors zurückzuführen, keine normativen und abgeschlossenen Wahrheiten, sondern vielmehr ein nach allen Seiten offenes Nachdenken darlegen zu wollen. Mit seinen eigenen Worten formuliert Lohlker dies als „[a]bschließende Gedanken“ wie
folgt: „Die Gedanken auf den Seiten dieses Buches haben nicht den Anspruch, die Wahrheit über die Methodik des islamischen Rechts zu sprechen. Es werden nur neue Falten geschlagen. Auch wenn wir uns jenseits des Leibniz’schen Barock bewegen, kann für diese Gedanken die Aussage von Gilles Deleuze gelten: ‚Wir entdecken neue Weisen zu falten und neue Hüllen, wir bleiben aber Leibnizianer, weil es immer darum geht zu falten, zu entfalten, wieder zu falten.‘ Diese Studie möchte in diesem Sinne andere Dinge zum Vorschein bringen, als es üblicherweise geschieht, wenn vom islamischen Recht die Rede ist, und damit ein Bewusstsein für die Porosität von Konzepten schaffen. Und vielleicht zum Weiterdenken anregen“ (S. 236). Diese Herangehensweise beobachtet man noch
stärker in seinem im gleichen Verlag erschienenen Band Islam. Eine Ideengeschichte (Wien 2008). Die gewöhnungsbedürftige Transkription und dass er Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1209) als einen mittelasiatischen hanafitischen Gelehrten betrachtet (S. 54), kann man wohl als einen Schönheitsfehler in einem ansonsten sehr nützlichen Werk auffassen.
Zuerst erschienen in: http://hikma-online.com/cms/sites/default/files/HIKMA%206%20review%204.pdf
Weitere Monographien zum islamischen Recht von Rüdiger Lohlker:
- Der Handel im malikitischen Recht, Berlin 1991;
- Schari’a und Moderne: Diskussionen über Schwangerschaftsabbruch, Versicherung und Zinsen, Stuttgart 1996;
- Das Islamische Recht im Wandel. Ribā, Zins und Wucher in Vergangenheit und Gegenwart, Münster 1999;
- Islamisches Familienrecht: Methodologische Studien zum Recht malikitischer Schule in Vergangenheit und Gegenwart, Göttingen 2002;
- Islamisches Völkerrecht. Studien am Beispiel Granada, Bremen 2006.
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