Thesen:
- Der Islam der Vormoderne kennt keine dem christlich-europäischen Antisemitismus vergleichbare Form der Judenfeindschaft: weder in der Theologie noch in der Geschichte. Die These von der ewigen, theologisch begründeten Judenfeindschaft erweist sich damit als unhaltbar.
- Der gegenwärtige Antisemitismus unter Muslimen ist vor allem ein israelbezogener Antisemitismus, der auf den Nahostkonflikt zurückgeht und daher politische Wurzeln hat. Viele antisemitische Stereotype wurden im 19. und 20. Jahrhundert von christlichen Missionaren in die arabische Welt gebracht und sind größtenteils auf europäische Vorbilder und weniger auf einen spezifisch islamischen Hintergrund zurückzuführen. Dieser Antisemitismus wurde im Kontext des Nahostkonflikts theologisch aufgeladen. Deshalb ist es richtiger vom islamisierten und nicht vom islamischen Antisemitismus zu sprechen.
- Sowohl im Koran als auch in den Hadithen des Propheten finden sich antijüdische Erzählungen, die jedoch nie als pauschale Verurteilung der Juden als Juden gelesen wurden, sondern als kontextbezogene Kritik der Juden im frühislamischen Kontext. Es gibt aber auch positive Passagen über Juden im Koran, so dass der Ton des Korans gegenüber Juden differenziert und ambivalent, aber nicht einseitig ist.
- Dieses antijüdische Potential in den Hauptquellen wurde bis auf wenige historische Ausnahmen kaum als Feindbildkonstruktion genutzt. Es gab eine dauerhafte jüdische Präsenz in muslimischen Gesellschaften, in denen es nur vereinzelt zu Judenverfolgungen kam. Juden lebten in muslimischen Gemeinschaften, in denen religiöser Pluralismus die Norm war, weitgehend sicher. Heute jedoch werden judenkritische Passagen in den heiligen Schriften zunehmend antisemitisch gelesen und instrumentalisiert.
- Eine Judenfeindschaft aus den muslimischen Quellen ist nur durch eine dekontextualisierte Lesart der Quellen möglich, die in einer als bedrohlich empfundenen Situation das Potential haben, antisemitisches Gedankengut zu befördern, weshalb eine permanente theologische Aufklärung bereits im Religionsunterricht sehr wichtig ist. Der gegenwärtige Antisemitismus in den muslimischen Gemeinschaften bleibt daher eine große Herausforderung für die Muslime, der man sich ernsthaft stellen muss.
- Häufig wird auf den muslimischen Antisemitismus verwiesen, um vom eigenen Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft abzulenken. Dies vermischt sich mit pauschalen Verdachtsdebatten, die den antimuslimischen Rassismus noch verstärken. Für die Bildungsarbeit ist es wichtig, antimuslimischen Rassismus und islamisierten Antisemitismus gleichzeitig in den Blick zu nehmen.
Einführung
Heutzutage lassen sich unter muslimischen Jugendlichen in Europa, aber auch in der islamischen Welt deutliche antisemitische Tendenzen entdecken, genauso wie in der jüdischen Bevölkerung in Israel aber auch in Deutschland eine antimuslimische Haltung festzuhalten ist. Diese gegenseitige Abneigung hat jedoch keine lange Vergangenheit, sondern geht auf den Israel-Palästina-Konflikt zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, in dessen Folge sich Muslime und Juden zunehmend voneinander entfernten. Dieser politische Konflikt überschattet die nahezu 1300 jährige gemeinsame Geschichte.
Jüdische Präsenz unter muslimischer Herrschaft und die muslimisch-jüdische Symbiose
“Das Judentum ist niemals wieder eine solche enge und fruchtbare Symbiose eingegangen, wie mit der mittelalterlichen Zivilisation des arabischen Islams.“
Shlomo Dov Goitein (1900-1985) beschreibt die 1300-jährige gemeinsame Geschichte der Juden und Muslime als eine kreative muslimisch-jüdische Symbiose und prägte damit diesen Begriff, der im Laufe des 20. Jahrhunderts prominente Vertreter hatte.
Über die gesamte islamische Geschichte hinweg gab es eine weitgehend dauerhafte jüdische Existenz unter der muslimischen Herrschaft. Juden und Muslime lebten jedoch weder in paradiesischen Zuständen in einer interreligiösen Utopie zusammen noch war die jüdische Präsenz unter den Muslimen eine ständige Leidensgeschichte. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Im Vergleich zu den Glaubensgenossen unter der christlichen Herrschaft ging es den Juden unter der muslimischen Herrschaft deutlich besser. Sie waren gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell in die jeweiligen Gesellschaften integriert und hatten einen sicheren Rechtsstatus, was ihnen zwar nicht die gleichen Rechte wie die Muslime, aber doch eine weitest gehende Religionsfreiheit gewährleistet hat. Das heißt nicht, dass sie keine schlechten Erfahrungen gemacht haben. Unter der almohadischen Herrschaft in Nordafrika und Spanien gab es im 12. Jahrhundert zeitweise Zwangskonversionen und Vertreibungen von Juden und Christen, genauso unter der Fatimidischen Herrschaft im 10./11. Jahrhundert. Das traurigste Ereignis fand 1066 in der jüdischen Hochburg Granada statt, als tausende Juden in einem Massaker ums Leben kamen. Neben diesen großen Ereignissen, gab es hin und wieder Diskriminierungserfahrungen und Misshandlungen von Juden in verschiedenen Gebieten. Solche Ereignisse bilden jedoch traurige Ausnahmen in einer langen gemeinsamen Vergangenheit, in ansonsten recht stabilen Verhältnissen. Ausschreitungen gegen Juden als Juden hat es, laut der mehrheitlichen Auffassung der Historiker so gut wie nie gegeben. Die Juden waren in den islamischen Gesellschaften praktisch unsichtbar und nur eine religiöse Minderheit unter vielen, während sie z.B. in Europa meist die einzige nichtchristliche Gemeinschaft waren und daher unter starkem Druck standen. In islamischen Gesellschaften war religiöser Pluralismus die Norm, und die Juden bildeten keine Ausnahme und wurden deshalb auch nicht gesondert behandelt.
Mark Cohen nennt in seinem bahnbrechenden Werk „Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter“ theologische, rechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Gründe, warum es den Juden in den Jahrhunderten vor der Moderne unter Muslimen besser ging als unter der christlichen Herrschaft.
Die Theologie, so Cohen, habe eine entscheidende Rolle für die entspannte Haltung der Muslime gegenüber den Juden gespielt. Der gemeinsame jüdische und christliche Anspruch auf die Bibel (Altes Testament oder Tanach) habe den Grundstein für einen dauerhaften Konflikt gelegt, so dass das theologische Verhältnis zwischen Juden und Christen von Anfang an belastet gewesen sei. Die Christen erhoben den Anspruch, das neue Israel zu sein und die Juden als auserwähltes Volk abgelöst zu haben.
Den Muslimen fiel die Abgrenzung leichter. Sie verfügten über eine eigene Schrift, die die anderen ablöste, aber dennoch in gewisser Weise als Offenbarungszeugnis akzeptierte. Sie führten ihre Abstammung nicht auf Israel, sondern auf Abrahams erstgeborenen Sohn Ismael zurück. Darüber hinaus hatten Islam und Judentum weit mehr Gemeinsamkeiten als Christentum und Judentum. Allen voran der strikte Monotheismus der Juden und Muslime gegenüber der Trinität der Christen.
Auch in der rituellen und rechtlichen Praxis gibt es viele Parallelen. Beide Religionen kennen ein religiöses Recht (im Judentum Halacha, im Islam Fiqh), das sich auf alle Lebensbereiche erstreckt, und die klassische Position beider Religionen sieht in der Befolgung dieser Normen einen authentischen Weg, dem Willen Gottes näher zu kommen. Der Dialog zwischen muslimischen und jüdischen Gelehrten, Denkern und Dichtern, das einfache Zusammenleben im selben Stadtviertel oder die berufliche Zusammenarbeit waren über Jahrhunderte gelebte Realität. Juden und Muslime waren in den meisten Regionen der islamischen Welt keine Fremden. Sie lebten jahrhundertelang zusammen, wodurch eine gemeinsame Kultur und ein hohes Maß an gegenseitiger Vertrautheit entstanden, die ein zwar nicht immer harmonisches, aber insgesamt doch kooperatives Zusammenleben ermöglichten. Auch wenn die vormodernen Gesellschaften noch weit von der heutigen Vorstellung von Gleichberechtigung entfernt waren, so war das Verhältnis der Religionsgemeinschaften doch nicht primär von Feindschaft geprägt, sondern von jener gegenseitigen Vertrautheit, die wir auch in unserer Zeit so dringend benötigen.
Diese jahrhundertealte muslimisch-jüdische Symbiose wurde durch die koloniale Zerrüttung der muslimischen Welt, durch die widerstreitenden Nationalismen und durch den Nahostkonflikt aufgelöst.
Der islamische Antisemitismus – Ein Import aus Europa
Der Nahostkonflikt gab dem Anfang des 20. Jahrhunderts neu aufkommenden muslimischen Antisemitismus Auftrieb. Dieser Antisemitismus hatte jedoch keine muslimischen, sondern christlich-europäische Wurzeln. Das europäische Bild der jüdischen Weltverschwörung, die Ritualmordlegenden, der Gottesmordvorwurf, die Juden als Brunnenvergifter oder ähnliche antijüdische Stereotype waren der islamischen Welt völlig fremd. Nach Mark Cohen wurde antisemitisches Gedankengut von christlichen Missionaren aus Europa in die arabische Welt gebracht. Im Zuge des Palästinakonflikts erhielten diese Schriften einen enormen Zulauf. Die Gründung des Staates Israel und die Vertreibung und das Leid vieler Palästinenser führten dazu, dass die Abneigung und der Hass gegenüber Israel enorm angestiegen sind. Der Antisemitismus in der islamischen Welt ist also als ideologischer Reflex auf einen realen Konflikt entstanden und hat somit keinen theologischen, sondern einen politischen Ausgangspunkt. Michael Kiefer sagt dazu Folgendes:
„Insgesamt betrachtet kann konstatiert werden, dass heutige antisemitische Narrative […] sich aus einer Vielzahl von Quellen speisen. In vielen Fällen ist es eine krude Mischung, in der aktuelle Wahrnehmungen des Palästinakonflikts mit Stereotypen des europäischen Antisemitismus – insbesondere das Bild des Verschwörers – und dekontextualisierten koranischen Erzählungen vermischt werden. Angesichts dieses Sachverhalts kann nicht von einem spezifischen muslimischen oder islamischen Antisemitismus gesprochen werden. Zutreffender sind die Bezeichnungen islamistischer oder islamisierter Antisemitismus.“[2]
In diesem Kontext wurden judenkritische Koranverse, in denen von Söhnen Israels die Rede ist, aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen und wortwörtlich als eine universale Verurteilung aller Juden neu gelesen. Der vom Westen importierte Antisemitismus wurde vor dem Hintergrund des Nahostkonfliktes also zunehmend theologisch aufgeladen und mit Belegen aus dem Koran untermauert. Damit wurde der politische Nahostkonflikt der Ausgangspunkt einer neuen Koranexegese, die vor allem von Laien wie dem Ideologen Said Qutub vorangetrieben und damit antijüdische Stimmung erzeugt wurde.
„Inspiriert von den Protokollen der Weisen von Zion , nahm Kutb in seiner Koranexegese das antisemitische Stereotyp von der jüdischen Weltverschwörung auf. Sie diente ihm als Erklärung für den politischen Niedergang der muslimischen Welt und die Gründung des Staates Israel. In Kutbs geschlossenem Weltbild wurde das Judentum als eine monolithische, zentral gelenkte Gemeinschaft dämonisiert, die auf eine totalitäre Weltdiktatur hinarbeite. Muslime müssten deshalb, so Kutb, zum Wohle aller das Judentum bekämpfen.“[1]
Hier wird deutlich, wie die Situationsdiagnose, d.h. die Wahrnehmung des gelebten Kontextes, entscheidend für das Verständnis der heiligen Texte sein kann. Die gleichen Texte werden aufgrund des veränderten Kontextes plötzlich ganz anders interpretiert als zuvor. Entscheidend für die Wahl der Hermeneutik ist also meist die Situationsdiagnose und nicht so sehr der konkrete Inhalt der Texte selbst Wie im Neuen Testament gibt es auch im Koran viele kritische, aber auch viele positive Passagen über das Judentum. Im Vergleich zum NT ist der Qur’an jedoch differenzierter gegenüber dem Judentum. Deshalb wurden die judenkritischen Koranverse oder auch Hadithe über Jahrhunderte hinweg in der Regel nicht im Sinne einer pauschalen Verurteilung aller Juden gelesen. Im Kontext der Moderne und des Nahostkonflikts wurden diese Passagen jedoch plötzlich als Grundlage für antisemitische Welterklärungsmodelle herangezogen.
Judenkritische Textstellen im Koran
Aus dem Kontext gerissen und mit einem wörtlichen Verständnis solcher Textstellen lässt sich aus dem Koran in der Tat eine judenfeindliche Haltung ableiten, dieses Potential ist vorhanden. Ein Beispiel:
„Erniedrigung kam über sie, wo immer man sie fassen konnte … Und sie verfielen dem Zorn Gottes und Verelendung kam über sie. Dies dafür, dass sie nicht an die Zeichen Gottes glaubten und unberechtigterweise die Propheten töteten, und dafür, dass sie widerspenstig und in Übertretung waren.“ (Koran: 3/112)
In einem anderen Vers werden Juden zusammen mit den Polytheisten als die stärksten Feinde bezeichnet:
„Du wirst sicher finden, daß unter den Menschen diejenigen, die den Gläubigen am stärksten Feindschaft zeigen, die Juden und die Polytheisten sind. Und du wirst sicher finden, daß unter ihnen diejenigen, die den Gläubigen in Liebe am nächsten stehen, die sind, welche sagen: »Wir sind Christen.« Dies deshalb, weil es unter ihnen Priester und Mönche gibt und weil sie nicht hochmütig sind.“ (Koran: 5/82)
In diesem Vers ist von einer offenen Feindschaft seitens der Juden und Polytheisten die Rede, während die Christen positiv aufgefasst werden. Dieser Vers stammt von einer Zeit, in der die Zerwürfnisse zwischen den Juden und Muslimen schon stattgefunden haben. Christen waren zahlenmäßig kaum in Medina vertreten, deswegen bildeten sie keine große Gefahr für die Gläubigen und es ging auch keine reale Gefahr oder auch Feindschaft von ihnen aus. Die feindliche Haltung der Juden wird im Koran weiterhin thematisiert.
Juden hätten auch davor Propheten mit Lüge bezichtigt, sie abgelehnt und getötet; und jetzt lehnten sie auch den Propheten aus Hochmut, Egoismus und aus Vertrauen in die eigene Macht und Reichtum ab und versuchten die Gläubigen zu verführen. Sie würden die Worte verdrehen und die Wahrheit nicht anerkennen, obwohl es in Ihren Büchern stehe. Die Feindschaft gegenüber Gottesgesandte wird im Koran als eine Konstante der Söhne Israels dargestellt, weshalb die Feindschaft gegen Muhammad auch in dieser Tradition zu sehen sei.
Sie würden Intrigen fädeln und Unheil bringen, nur Abneigung gegen Muslime hegen, versuchen Verwirrung zu stiften; die Gläubigen zu verführen und vom wahren Glauben abbringen. Dieser harsche Ton im Koran soll als Reaktion auf die feindselige Haltung der jüdischen Stämme in Medina verstanden werden und nicht als allgemeine Aussagen über Juden. Die Vertreibung der Juden aus Medina hatte nach der Mehrheit der Gelehrten nicht primär damit zu tun, dass die frühen Muslime judenfeindlich waren, sondern weil die Juden in Medina eine feindselige Haltung gegenüber Muslime eingenommen, mit den Feinden kooperiert und dadurch den gemeinsamen Vertrag gebrochen hätten.
Das Verhältnis mit den Juden ist aus dieser Perspektive zu betrachten. Anfangs waren die Beziehungen sehr positiv, man erhoffte sich die Unterstützung der Juden gegen die Polytheisten. Der Vertrag von Medina ist als Zeichen dieser Hoffnung zu sehen. Aber die Beziehungen verschlechterten sich, so dass für die frühe Gemeindebildung des Islams das Judentum eine konstituierende Funktion als Gegenbild spielt, so dass auch in den frühen Quellen des Islam ähnlich wie im frühen Christentum viel Antijüdisches finden lässt. Es ist also dem Islam nicht wesensfremd, dass antijüdische Stimmung als Potenzial für Konflikte verwendet wird. Diese sind jedoch Ausnahmen. Die Ausnahmen zeigen aber, dass dieses antijüdische Potenzial in einem ideologisch günstigen Kontext wieder abgerufen werden können, wie wir es im Zuge des Nahostkonfliktes erleben, deshalb bleiben diese Texte natürlich ambivalent.
Die Muslime haben in der Geschichte solche Verse in der Regel nicht als eine universelle Pauschalkritik für alle Juden verstanden, sondern als eine zwar sehr scharfe, aber kontextgebundene Kritik an Juden in Medina. Deshalb hat die teils negative Stellung der Juden im Koran nie zu einer generellen judenfeindlichen Haltung in der islamischen Welt geführt. Auch die Konflikte des Propheten Muhammad mit den jüdischen Gemeinden in Medina, die zur Vertreibung und Vernichtung jüdischer Stämme geführt haben, wurden als kontextbedingte und nicht als universelle Konflikte verstanden. Genauso auch die eschatologischen Endzeiterzählungen, in denen Juden nicht besonders gut wegkommen und als Verbündete gemeinsam mit dem Antichristen gegen Jesus kämpfen sollen. Die 1300-jährige dauerhafte jüdische Präsenz unter der muslimischen Herrschaft ist ein guter Beweis dafür. Die These einer ewigen theologisch bedingten Judenfeindschaft der Muslime, welche auf den Koran und auf die Praxis des Propheten zurückgehen soll, lässt sich sehr schnell als unhaltbar erweisen.
Dennoch bleibt die Tatsache, dass es gegenwärtig unter der muslimischen Bevölkerung einen starken Antisemitismus gibt. Meistens handelt es sich dabei um eine israelkritische Haltung, die mit antisemitischen Parolen und Verschwörungstheorien vermischt wird. Viele Muslime können nicht zwischen der gerechtfertigten Kritik gegenüber der israelischen Besatzungspolitik und Judenfeindlichkeit unterscheiden. Ein genereller Antijudaismus, Antisemitismus oder Judenhass ist aber aus der islamischen Perspektive, wenn man die Quellen ganzheitlich und ihren Kontexten liest, nicht zu rechtfertigen und wird von der Mehrheit auch verurteilt. Im Koran wird nie pauschal eine bestimmte Gruppe kritisiert und verurteilt, sondern immer Handlungen und Einstellungen, deshalb gibt es neben den sehr negativen und harten Koranversen über Juden auch sehr positive und anerkennende.
Generell ruft der Koran auf zu differenzieren: „Sie sind nicht alle gleich. Unter den Leuten der Schrift gibt es eine Gemeinschaft, die für das Rechte einsteht. Sie tragen in der Nacht Gottes Zeichen vor und werfen sich vor Ihm nieder. Sie glauben an Gott und an den Jüngsten Tag und regen zum Guten an und verwehren Böses und wetteifern miteinander zum Guten. Sie gehören zu den Rechtschaffenen. Was sie an Gutem tun, nichts wird ihnen vorenthalten, und Gott kennt die Achtsamen“ (3:113). Es gibt also rechtschaffene, aber auch ungerechte Juden und Christen, genauso wie es rechtschaffene und ungerechte Muslime geben kann. An keiner Stelle im Koran oder in der Sunna werden Juden, weil sie Juden sind kritisiert oder verurteilt, sondern immer aufgrund einer bestimmten Handlung oder Eigenschaft. An anderer Stelle ruft der Koran zu einer Ehe- und Tischgemeinschaft mit den Juden auf (5:5). Es ist Konsens in allen Richtungen des islamischen Rechts, dass muslimische Männer mit Jüdinnen und Christinnen heiraten dürfen. Der Koran ruft an vielen Stellen zur Güte und gerechtes Verhalten gegenüber Juden und Christen auf, wie im folgenden Vers zu sehen ist:
„Gott verbietet euch nicht, gegen diejenigen gütig und gerecht zu sein, die nicht der Religion wegen gegen euch gekämpft, und die euch nicht aus euren Wohnungen vertrieben haben. Gott liebt die, die gerecht handeln. Er verbietet euch nur, euch denen anzuschließen, die der Religion wegen gegen euch gekämpft, und die euch aus euren Wohnungen vertrieben oder bei eurer Vertreibung mitgeholfen haben. Diejenigen, die sich ihnen anschließen, sind die (wahren) Frevler.“ (Sure 60/8-9)
Ausblick
Eine pauschale Judenfeindschaft lässt sich aus dem Koran also nicht ableiten. Das Verhältnis zu den Juden ist im Koran und im Leben des Propheten sehr ambivalent. Einerseits sieht sich der Koran in einer Kontinuität mit der jüdischen Tradition, gleichzeitig findet aber auch eine Abgrenzung und Distanzierung statt. Dabei unterscheidet der Koran kaum zwischen Juden und Christen. Diese bewusste Nähe und Distanz ist typisch für den koranischen Ton gegenüber anderen Religionen, da er sich einerseits als Bestätigung, andererseits aber auch als Korrektur jüdischer und christlicher Schriften versteht. Wir haben aber auch gesehen, wie judenkritische Passagen im Koran und in den Hadithen in veränderten Kontexten schnell als Grundlage für antisemitisches Gedankengut instrumentalisiert werden können. Wir erleben auch, dass solche Interpretationen großen Zulauf haben und für viele sehr attraktiv sind. Deshalb ist es eine ständige Aufgabe der Theologen, hier für mehr Differenzierung und Aufklärungsarbeit in den muslimischen Gemeinden zu sorgen, damit die Hetzer nicht die Oberhand gewinnen. Der Antisemitismus in den muslimischen Gemeinschaften bleibt daher eine große Herausforderung für die Muslime, der man sich ernsthaft stellen muss. Die Tatsache, dass der Islam keine grundsätzlich judenfeindliche Theologie entwickelt hat oder in der Geschichte viel toleranter gegenüber Juden war, entbindet uns nicht von dem Problem des heutigen Antisemitismus.
Wir beobachten aber häufig, dass auf den muslimischen Antisemitismus verwiesen wird, um vom eigenen Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft abzulenken. Esra Özyürek behauptet sogar, Deutschland wälze seine historische Schuld auf die Muslime ab, indem es die Muslime bewusst als die neuen Antisemiten darstelle, die es umzuerziehen gelte. Der Vorwurf des Antisemitismus gegenüber Muslimen entspringt genauso wie der Vorwurf potenziell demokratiefeindlich, gewalttätig, homophob oder sexistisch zu sein, häufig einer rassistischen Motivation, in der Muslime kollektiv als Antisemiten bezeichnet werden. Ein gutes Beispiel bietet die Aussage von Friedrich Merz im Zuge des aktuellen Israel-Palästina-Konfliktes: „Sollte es Flüchtlinge aus Gaza geben, dann sind diese zunächst einmal ein Thema für die Nachbarstaaten. Deutschland kann nicht noch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Wir haben genug antisemitische junge Männer im Land.“ Hier werden Menschen aus Gaza automatisch kollektiv als Antisemiten bezeichnet, was als Paradebeispiel dafür gelten kann, wie Rassismus und Antisemitismusvorwürfe ineinander greifen. Oftmals wird bei Muslimen bei antisemitischen Vorwürfen strenger hingesehen und weniger Toleranz gezeigt als bei der weißen Mehrheit, was nicht selten zu Ausgrenzungsmechanismen führen kann. Diese Gleichzeitigkeit von antimuslimischem Rassismus und Antisemitismus muss daher in der Bildungsarbeit berücksichtigt werden, um das Thema effektiv bearbeiten zu können.
Leseempfehlung:
Mark R. Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter, Aus dem Englischen von Christian Wiese, München 2005.
Michael Kiefer, Antisemitismus und Migration, Baustein 5, Berlin 2017.
Cheema, Saba-Nur, Gleichzeitigkeiten: Antimuslimischer Rassismus und islamisierter Antisemitismus – Anforderungen an die Bildungsarbeit. In: Mendel, Meron/Messerschmidt, Astrid: Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt, New York 2017.
[1] http://www.zeit.de/2015/12/antisemitismus-islam-juden-muslime
[2] Michael Kiefer, Antisemitismus und Migration, Baustein 5, Berlin 2017.