Gab es eine jüdisch-christliche Tradition und was hat die islamische Architektur mit der Judenfeindschaft im Europa des 19. Jahrhunderts zu tun?

„Die Geschichte des Begriffs „jüdisch-christliche Kultur“ legt nahe, dass die Integration des „Jüdischen“ in die kulturelle Identität Europas erst dann eine wirklich „harmonische“ wurde, nachdem die „Entjudaisierung“ mit der Vernichtung der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreicht hatte.[1],

Das behauptet der Historiker David Nirenberg. Er ist der Autor des Werkes „Antijudaismus- Eine andere Geschichte des westlichen Denkens“, worin er darlegt, dass der Antijudaismus sich über die gesamte Geschichte des westlichen Denkens bis heute als eine Konstante festgehalten habe.[2] Laut Almuth Shulamit Bruckstein ist die jüdisch-christliche Tradition eine „moderne Erfindung“, „das Lieblingskind der traumatisierten Deutschen“ und eine „posttraumatische, postlutherische Konstruktion“.[3] Ein jüdisch-christliches Abendland hat es nach Ansicht vieler, auch jüdischer Denker, nie gegeben. Die Juden waren im kollektiven Gedächtnis der Deutschen und Europäer nie Teil der eigenen Kultur, sondern immer das schlechthin Andere, gegen das man sich abgrenzen musste, das exemplarische Gegenbild des eigenen Selbst, des eigenen Kollektivs. Diese Grundhaltung, so Salomon Korn (geb. 1943), habe die deutsch-jüdische Geschichte über Jahrhunderte bestimmt und bestimme sie bis heute.[4] Trotz der rechtlichen Gleichstellung der Juden im 19. Jahrhundert seien die Juden immer Fremde geblieben, und auch die vollständige Integration bzw. Assimilation der jüdischen Bürger habe dieses Fremd- und Anderssein nicht beendet, sondern im Gegenteil beschleunigt und verschärft. Wir bleiben im 19. Jahrhundert und betrachten einige Beispiele, wie jüdische Intellektuelle mit dieser paradoxen Situation umgingen.

Heinrich Heine und Al-Mansor

Die Biographien zahlreicher Intellektueller wie die des berühmten Heinrich Heine (1797-1856), der erst durch seine Konversion zum Christentum eine erfolgreiche Karriere als Schriftsteller und Intellektueller zu machen glaubte, erzählen diese traurige Geschichte. Heinrich Heine konvertierte nicht aus religiöser Überzeugung zum Christentum, sondern aufgrund der antijüdischen Ausgrenzung durch die Gesellschaft. Die Taufe war für ihn wie für viele jüdische Intellektuelle der einzige Ausweg, das Entreebillet zur europäischen Kultur. Die Konversion kann hier als Scheitern interpretiert werden. Das Scheitern an einer Gesellschaft, die ihrem Anspruch einer freien, toleranten und offenen Gesellschaft nicht gerecht werden konnte, so dass nur die Konversion zum Christentum die gleichen Aufstiegschancen ermöglichte. Doch auch nach seiner Konversion blieb Heine für viele ein Jude, auch die Taufe verschaffte ihm nicht den ersehnten Zugang zum bürgerlich-kulturellen Europa. Der Jude war und blieb das “Andere” Europas. Heine drückte seine Enttäuschung ein Jahr nach seiner Konversion so aus:

“Ich bin jetzt bey Christ und Jude verhaßt. Ich bereue sehr, daß ich mich getauft hab; ich seh noch gar nicht ein, daß es mir seitdem besser gegangen sey, im Gegentheil, ich habe seitdem nichts als Unglück”[5]

In seinem berühmten Theaterstück “Al-Mansor”, welches im zwangschristianisierten Granada nach der Reconquista im 16. Jahrhundert abspielt, lässt er den muslimischen Protagonisten Almansor, der sich, um seine Geliebte zu retten, als Christ verkleidete, sagen: Trotz Hut und Mantel bin ich doch ein Moslem, Denn in der Brust hier trag ich meinen Turban.“ Dieser Satz spiegelt wahrscheinlich sein eigenes Leben wieder, als wolle er sagen „Denn in der Brust hier trage ich meine Kippa![6] Auch die Zeitgenossen Heinrich Heines haben die Anspielungen in diesem Werk als eine Kritik der Umstände in Deutschland des 19. Jahrhunderts verstanden und ihn deshalb hart attackiert. Die Botschaft war klar: Damals im 16. Jahrhundert in Andalusien wurden die Muslime gezwungen ihren Turban abzulegen, heute im 19. Jahrhundert in Deutschland werden die Juden gezwungen ihre Kippa abzulegen.

Die Enttäuschung über die fehlende Anerkennung, verwehrten Bürgerrechte und steigenden Antisemitismus führte bei vielen jüdischen Intellektuellen zu einer zunehmenden Beschäftigung mit der islamischen Kultur, die sie als Zufluchtsort als Projektionsfläche ihrer Ideale entdeckten. Besonders das muslimische Andalusien im Mittelalter wurde von vielen Juden als die ideale Gesellschaft glorifiziert, die sie als Gegenbild zu ihrer negativen Erfahrung der Unterdrückung in Europa konstruierten. Dort die toleranten Muslime, unter deren Herrschaft Juden und Christen frei leben konnten, hier das intolerante christliche Europa, in denen Juden immer noch keinen festen Platz haben. Mark Cohen nennt dieses Phänomen die Konstruktion des „Mythos des interreligiösen Utopias“.[7] Für den jüdischen Historiker Heinrich Graetz (1817-1891) war das muslimische Andalusien nichts Geringeres als ein „goldenes Zeitalter“, ein Zeitalter der interreligiösen Harmonie. Mit den Worten Heinrich Heines:

Es ist ein schönes Land, das schöne Spanien,
Ein großer Garten, wo da prangen Blumen,
Goldäpfel, Myrten; – aber schöner noch
Prangten mit stolzem Glanz die Maurenstädte,
Das edle Maurentum, das Tarik einst,
Mit starker Hand, auf span’schen Boden pflanzte.
Durch manch Ereignis war schon früh gediehn
Das junge Reich; es wuchs und blühte auf
In Herrlichkeit, und überstrahlte fast
Des alten Mutterlands ehrwürd’ge Pracht.
Und Schönes blühte, wo die Schönheit herrschte.

Diese interreligiöse Harmonie und Toleranz hörte mit der christlichen Eroberung der letzten muslimischen Bastion in Andalusien, nämlich Granada auf zu bestehen. So heißt in Almansor weiter:

Doch war’s ein ernstrer Ritterkampf,  worin

Sie selber fiel, die leuchtende Granada,

Und ritterliche Großmut war es nicht,

Als jüngst sein Wort, womit er Glaubensfreiheit

Verbürget hatt, der Sieger listig brach,

Und den Besiegten nur die Wahl gelassen,

Entweder Christ zu werden, oder fort

Aus Spanien nach Afrika zu fliehn.

Alle Muslime wurden entweder vertrieben oder zum Christentum zwangskonvertiert. Vor diesem Hintergrund versucht der Protagonist Almansour, als Christ verkleidet, seine Geliebte zu retten. Dies spiegelt in vielerlei Hinsicht die innere Haltung Heines und die ambivalente Stellung der Juden in Deutschland wider.

Ein weiteres Beispiel für einen jüdischen Intellektuellen, der die Erzählung eines goldenen Zeitalters in Andalusien gezielt einsetzte, um auf die schwierige Lage der Juden in Europa aufmerksam zu machen, ist der englische Romantiker Benjamin Disraeli (1804-1881). In seinem politischen Roman Conongsby (1844) drückt er seine Sehnsucht nach einer jüdisch-muslimischen Allianz aus, wie sie seiner Meinung nach damals in Andalusien bestand. Wir erfahren dort, dass im mittelalterlichen Andalusien

„die Kinder Ismaels den Kindern Israels die gleichen Rechte und Privilegien gewähren wie sich selbst. Während dieser glorreichen Jahrhunderte ist es schwer, die Anhänger des Moses von den Anhängern Muhammads zu unterscheiden. Beide bauten gleichermaßen ihre Paläste und legten Gärten und Brunnen an, hatten die höchsten Ämter im Staat inne und wetteiferten in umfangreichen und aufgeklärten Handel und waren Rivalen nur im Ringen um die besten Universitäten.“[8]

So war das idealisierte Bild einer interreligiösen Harmonie zwischen Juden und Muslimen nicht nur Ausdruck einer jüdischen Romantik, der Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter in der Vergangenheit, sondern diente auch als politisches Druckmittel, um das christliche Europa herauszufordern, der jüdischen Minderheit die Freiheit zu garantieren, die sie im Zuge der Aufklärung und der Französischen Revolution errungen hatte. Gleichzeitig gab es unter den großen Dichtern und Denkern des 19. Jahrhunderts ein reges Interesse an der islamischen Hochkultur. Die intensive Beschäftigung mit der islamischen Kultur war bei jüdischen Intellektuellen auch mit der Hoffnung verbunden, dass durch die Verbindung mit der islamischen Hochkultur auch das Jüdische in Europa aufgewertet würde. Denn der Islam hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in Deutschland neben den typischen Stereotypen auch eine große Anziehungskraft auf große Denker und Dichter ausgeübt. Damit sind wir bei der im Titel gestellten Frage, was islamische Architektur mit der Judenfeindschaft im Europa des 19. Jahrhunderts zu tun hat? Dieses Interesse an der islamischen Hochkultur als Projektionsfläche spiegelte sich nämlich auch in der Synagogenarchitektur wider. Vor diesem historischen Hintergrund wurden viele europäische Synagogen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebaut. In der „maurischen“ Synagogenarchitektur dieser Zeit, wie in Leipzig, Berlin, Frankfurt, aber auch in Budapest, St. Petersburg und Florenz, ist der Einfluss des muslimischen Stils mit Minaretten und Kuppeln sichtbar. Hier sind einige Beispiele:

1 Die Berliner Synagoge in der Oranienburger Strasse eingeweiht 1866[9]

2Große Synagoge in Budapest 1859[10]                      

3Frankfurter Hauptsynagoge eingeweiht 1860; wurde 1938 in Brand gesetzt[11]

Die ständige Ausgrenzung und Anfeindung der Juden als die Anderen Europas führte bei vielen jüdischen Intellektuellen im 19. Jahrhundert zu Verbitterung und Enttäuschung, die sie auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck brachten. Die Projektion eines goldenen Zeitalters im muslimischen Spanien und die „maurische“ Synagogenarchitektur des 19. Jahrhunderts sind Beispiele dafür, wie diese Enttäuschung verarbeitet wurde. Als 1866 in Berlin die größte Synagoge Deutschlands im maurischen Stil mit Kuppel und Minaretten errichtet wurde, schrieb die Berliner National-Zeitung „Das neue Gotteshaus ist maurisch märchenhaftes Bauwerk, das uns in die phantastischen Wunder einer modernen Alhambra mit farbenreichen Arabesken in einen tausendfältigen Zauber einführt.“14 und betonte damit die Fremdheit des Judentums als etwas Exotisches, Orientales. Für Korn symbolisierte das neue Gebäude die tatsächliche Stellung des Judentums in der Gesellschaft. „Trotz gesellschaftlicher Gleichstellung und trotz ihres uneingeschränkten Bekenntnisses zum deutschen Vaterland waren sie als gesellschaftlich-religiöse Minderheit Fremde geblieben.“ 15

Eine christlich-jüdische Tradition hat es in Deutschland also nie gegeben. Jüdisch und deutsch oder jüdisch und europäisch waren für viele im 19. aber auch im 20. Jahrhundert unvereinbare Bindestrich-Identitäten. Der berühmte Historiker Heinrich von Treitschke (1834-1896), der 1879 mit seinem Aufsatz „Unsere Aussichten“ den Berliner Antisemitismusstreit auslöste, brachte den Zeitgeist auf den Punkt, als er sagte, es werde immer Juden geben, die nichts anderes seien „als deutsch redende Orientalen“. Ähnlich äußerte sich fast ein Jahrhundert später Gershom Sholem (1897-1982), der die einst propagierte deutsch-jüdische Symbiose für ein Hirngespinst jüdischer Intellektueller hielt; in Wirklichkeit habe es eine solche Symbiose nie gegeben, wie der Zweite Weltkrieg und die Judenvernichtung eindeutig belegten. Vielmehr kann man von einer jahrhundertelangen Unterdrückungsgeschichte reden. Erst nach der Ermordung von sechs Millionen Juden kam es zu einem Umdenken und zu einer neuen Verhältnisbestimmung zwischen Juden und Christen in Europa.

Heute wird das Narrativ vom christlich-jüdischen Abendland vor allem zur Abgrenzung gegenüber Muslimen genutzt.[12] Die jüdische Intellektuelle Shulamit Bruckstein Coruh, die auch meine erste Professorin für Judaistik war, schrieb bereits 2010

„Die Republik spricht täglich von der jüdisch-christlichen Tradition des Abendlandes. Gewöhnlich im Sinne der Verteidigung unseres Rechtsstaates und des Grundgesetzes, der freiheitlichen Werte unserer Gesellschaftsordnung, auch gern mit der „Gleichstellung der Geschlechter, Freiheit der Kunst, Meinungs- und Religionsfreiheit“. Ein Kampfplatz, auf dem es vor allem einen Gegner gibt. Der zu gar keinem Bindestrich zu taugen scheint: der Islam.“

 Um am Ende hinzuzufügen

„In Zeiten, in denen muslimische Traditionen unter Generalverdacht stehen, bedarf es einer erneuten Liaison der jüdischen Intellektuellen mit den Muslimen dieses Landes. Es ist wieder Zeit, dass wir bekennen müssen. Wo Muslime Fremde sind, sind wir es auch.“[13]

Und obwohl der Antisemitismus in Deutschland heute wieder auf dem Vormarsch ist, versuchen Rechtspopulisten häufig, Muslime für den wachsenden Antisemitismus in Deutschland verantwortlich zu machen. Muslime sind heute das Andere, das Gegenstück zum Deutschen, zum Europäer, von dem man sich abgrenzen will. Auch wenn die historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen andere sind, lässt sich hier weiter fragen, ob wir im 21. Jahrhundert so weit sind, muslimisch und deutsch als Bindestrich-Identitäten zu akzeptieren, oder ob wir im Nachhinein eine weitere Geschichte des Scheiterns schreiben müssen.


[1] David Nirenberg: Judentum und Islam in der europäischen Dialektik von Glaube und Vernunft. Anmerkungen zur Geschichtstheologie Papst Benedikts XVI., in: Astrid Reuter/ Hans Kippenberg (Hg.) Religionskonflikte im Verfassungsstaat, Göttingen 2010, S. 188.

[2] Vgl. Hakki Arslan: Rezension: David Nirenberg, Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, C.H. Beck, München 2015, in: Hikma. Zeitschrift für Islamische Theologie und Religionspädagogik. 11/2017 (8), S. 301-304.

[3] http://www.tagesspiegel.de/kultur/islam-debatte-die-juedisch-christliche-tradition-ist-eine-erfindung/1954276.html (zuletzt gesehen 31.10.2023)

[4] http://www.jcrelations.net/Die_deutsch-j__dische_Symbiose_ist_blo___ein_Mythos.2311.0.html?&L=2 (zuletzt gesehen 31.10.2023)

[5] Sonkwé Tayim, C., Narrative der Emanzipation. Autobiographische Identitätsentwürfe deutschsprachiger Juden aus der Emanzipationszeit. Berlin, Boston 2013, S. 4.

[6] Lesehinweis über Heinrich Heine: Popal, M., Heine und der Orient? Zwischen Subjektivität und Veranderung oder wie das Andere nach Deutschland kam – sah – und – ?, in: Jokisch, B., Rebstock, U., Conrad, L. (Hg.), Fremde, Feinde und Kurioses. Innen- und Außenansichten unseres muslimischen Nachbarn. Berlin, Boston 2009.

[7] Vgl. Mark R. Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter, Aus dem Englischen von

Christian Wiese, München 2005.

[8] Stefan Schreiner, Von friedlichem Nebeneinander zu erbittertem Gegeneinander. Zwischen den

Welten – Zur Geschichte der Juden in der arabisch-islamischen Welt, in: LpB (Hg.) Die arabische

Welt und der Westen, Heft 2 2006.

[9] Bildquelle: Von Taxiarchos228 – Eigenes Werk, FAL, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=82868677

[10] Von Wo st 01 / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16330471

[11] Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1354016

[12] https://www.rundfunk.evangelisch.de/kirche-im-radio/morgenandacht/juedisch-christliche-tradition-7783 (zuletzt gesehen am 31.10.2023)

[13] http://www.tagesspiegel.de/kultur/islam-debatte-die-juedisch-christliche-tradition-ist-eine-erfindung/1954276.html (zuletzt gesehen am 31.10.2023)

[14] https://taz.de/Himmel-und-Hoelle-unter-der-goldenen-Kuppel/!1509973/ (zuletzt gesehen 31.10.2023)

[15] https://www.jcrelations.net/de/artikel/artikel/die-deutsch-juedische-symbiose-ist-bloss-ein-mythos.html (zuletzt gesehen 31.10.2023)

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