In der Geschichte der universalen Menschenrechte gilt John Locke (gest. 1703) als der erste, der die drei Grundrechte Leben, Freiheit und Eigentum als naturrechtliche Grundsätze formulierte und damit die Grundlage für die universale Menschenrechtsidee legte. Die Idee einer naturrechtlichen Grundlegung der Grundrechte aber, lässt sich zumindest schon im 11. Jahrhundert in der hanafitischen fiqh-Literatur belegen. Diese Meinung vertreten z.B. die türkischen Denker Tahsin Görgün und Recep Şentürk. Şentürk führt dies sogar bis ins 8. Jahrhundert auf den Gründer der hanafitischen Rechtsschule, Abu Hanifa (gest. 767) zurück. So gelten im hanafitischen Recht die Grundrechte auf Freiheit, Besitz und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens für alle Menschen von Geburt an und sind nicht abhängig von Religion oder Staatszugehörigkeit. Die Unantastbarkeit der Grundrechte gilt für jeden Menschen allein aufgrund seines Menschseins. Die universale Kategorie des „Menschseins“ (Ādamiyya) sei eine Besonderheit des hanafitischen Rechts.[1] Somit hätten die Hanafiten schon sehr früh die Grundlagen einer universalen Menschenrechtskonzeption im islamischen Recht gelegt. Bei dem hanafitischen Juristen as-Saraḫsī (gest.1089) werden diese Grundrechte wie folgt beschrieben:
„Als Gott den Menschen erschuf, damit er das Vertrauensgut (amāna) auf sich nimmt, hat er ihn mit der Vernunft und der Rechtsfähigkeit (ḏimma) ausgestattet, damit er als Rechtssubjekt für die Rechte Gottes verpflichtet werden kann. Dann hat er ihm die Unantastbarkeit [des menschlichen Lebens], die Freiheit und das Recht auf Eigentum verliehen, damit er überleben kann und das Vertrauensgut (amāna), das ihm auferlegt wurde, tragen kann. Freiheit, Unantastbarkeit und Recht auf Eigentum sind dem Menschen von Geburt an gegeben, unabhängig davon, ob er [bereits zwischen Gut und Böse] unterscheiden kann (al-mumayyiz – ġair al-mumayyiz). Und ebenso von Geburt an gegeben ist ihm daher die Rechtsfähigkeit (aḏ-ḏimma aṣ-ṣāliḥa), an die sich Verpflichtungen knüpfen können. [Auch hier] macht es keinen Unterschied, ob er [bereits zwischen Gut und Böse] unterscheiden kann.“[2]
In diesem Zitat, welches in fast identischer Form bereits bei ad-Dabūsī (gest. 1039) vorhanden ist, kommt die Idee eines Naturrechts zum Ausdruck, wonach jeder Mensch von Natur aus angeborene Grundrechte hat, die ihm allein aufgrund seines Menschseins zukommen. Hier werden die Unantastbarkeit des Lebens sowie das Recht auf Freiheit und Eigentum als Grundrechte aufgezählt, die der Mensch brauche, um das ihm anvertraute Gut bewahren zu können. Das Wort amāna ist in diesem Kontext zentral und kann als Verantwortungsübernahme interpretiert werden, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Amāna als das von Gott dem Menschen anvertraute Gut ist sehr eng mit dem Konzept der fiṭra, der natürlichen Disposition des Menschen, verbunden. Die natürliche Veranlagung des Menschen(fiṭra), die Gott in ihn hineingelegt hat, erfordert, dass er als Stellvertreter Gottes (Kalif, von arab. ḫalīfa) die Verantwortung gegenüber der gesamten Schöpfung übernimmt (amāna) und sich damit von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Aufgrund dieser Verantwortungsübernahme wurde der Mensch von Natur aus mit angeborenen Grundrechten ausgestattet, die er in Freiheit gemäß seiner Bestimmung einzusetzen hat. Dieses Thema wird bei Saraḫsī und bei späteren Gelehrten in den uṣūl al-fiqh-Werken unter dem Begriff ahliyyat al-wuǧūb (Rechtsfähigkeit) diskutiert. Ahliyyat al-wuǧūb ist ein universales Prinzip, wonach jeder Mensch von Geburt an Träger von bestimmten, unverhandelbaren Rechten und Pflichten ist. Auch Talal Asad betonte, dass das ahliyya-Prinzip im islamischen Recht bestimmte, universale Grundrechte kennt, die für alle gelten und die als eine gute Ausgangsposition für den heutigen islamischen Menschenrechtsdiskurs gelten können.. Deshalb müsse man statt der maqāṣid aš-šarīʿa-Lehre von dem Begriff der ahliyya (Rechtsfähigkeit) aus dem Bereich der uṣūl al-fiqh ausgehend diese Frage behandeln. Heutzutage ist es populär geworden, die Frage nach der Vereinbarkeit des islamischen Rechts mit den Menschenrechten immer in Bezug auf maqāṣid aš-šarīʿa zu diskutieren, was jedoch bislang nichts Substantielles hervorgebracht hat. Das ahliyya-Prinzip ist in dieser Hinsicht vielversprechender, weil es tief im fiqh und uṣūl al-fiqh-Diskurs verankert ist und auf eine lange Tradition – in Theorie und Praxis – zurückblickt. Zurück zum Zitat von as-Saraḫsī: Auffallend ist, dass Saraḫsī genau die drei Güter als angeborene Rechte erwähnt, die auch bei John Locke in seinen Zwei Abhandlungen über die Regierung als solche gelten. Sicherlich sind die politischen und ideengeschichtlichen Hintergründe jeweils sehr verschieden, aber die Grundidee ähnlich.
Islamrezeption in Europa im 17.-18. Jahrhundert
Hier wäre es wichtig zu untersuchen, ob und in welcher Form das islamische Recht die Naturrechtskonzeption von John Locke beeinflusst hat.[3] Zu Lebzeiten John Lockes hatte das Osmanische Reich seine größte Ausdehnung erreicht und galt weiterhin als eines der mächtigsten Reiche der Welt. Den europäischen Intellektuellen war die religiöse Toleranz, wie sie im osmanischen Reich gegenüber fast allen Religionen praktiziert wurde, bekannt. John Locke selbst aber auch Aufklärer wie Voltaire verwiesen immer wieder auf die Lage der nichtmuslimischen Minderheiten im Osmanischen Reich und stellten diese als vorbildlich für das Abendland dar. Ferner war John Locke ein Schüler und Freund von Edward Pococke, dem ersten Lehrstuhlinhaber der Arabistik Professur in Oxford, der Jahre lang in Aleppo gelebt und die religiöse Toleranz im Osmanischen Reich hautnah erlebt und auch davon berichtet hat. Er hatte einen großen Einfluss auf John Locke. Darüber hinaus wurde der Islam im 17. und 18. Jahrhundert ohnehin als eine Religion und Kultur auf Augenhöhe akzeptiert, von dem man bereit war sich inspirieren zu lassen. In dieser Phase der europäischen Geschichte wurden Geschichtswerke, sowie philosophische, theologische oder literarische Werke aus dem Arabischen und Türkischen in die europäischen Sprachen übersetzt, zeitgenössische kulturelle und politische Entwicklungen im Osmanischen Reich aufmerksam beobachtet. Alexander Bevilacqua beschreibt diese Phase zwischen 1650-1750 als „The Republic of Arabic Letters“, in der eine intensivere und sachlichere Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen und historischen islamischen Welt erfolgt habe.
„The seventeenth and eightteenth centuries saw a transformation in European knowledge of Islam and Islamic traditions. (…) At this time, Europeans first came to recognize the culture of Muslim lands as a holistic set of religious, intellectual,and literary traditions deserving respect and attention, and as an object of study that would yield intellectual, aesthetic, and even moral enrichment in variety of fields.European understandings of Islam changed, then, in two separate ways: on the one hand, Europeans studied a much wider range of sources oft he Islamic intellectual tradition than ever before, and on the , they began to think and write about Islam with a fair-mindedness that had until then been at best the exception rather than the rule.“[4]
In einem solchen Kontext reifte die Toleranzidee John Lockes. Seine Briefe über die Toleranz waren vermutlich unter anderem von der osmanischen Praxis der religiösen Toleranz geprägt, die er in seinem britischen Kontext fruchtbar zu machen versuchte. Die Grundlagen des Osmanischen Rechts gehen zu einem erheblichen Teil auf das hanafitische Recht zurück, jene Rechtstradition, die die oben erwähnten angeborenen Naturrechte seit Jahrhunderten vertritt. Es wäre kaum denkbar, dass John Locke oder Voltaire auf die Toleranz der Osmanen verweisen ohne die rechtlichen, philosophischen Grundlagen dieses Toleranzgedankens zu erforschen. Deshalb lässt es sich vermuten, dass auch die Vorstellung von angeborenen Grundrechten von der hanafitischen Tradition inspiriert sein könnte. Diese gilt es näher zu erforschen.
Die Idee der religiösen Toleranz und der angeborenen Grundrechte können also im Kontext des islamischen Rechts seit dem 8.Jahrhundert nachgewiesen werden, sowohl in der Rechtstheorie als auch in der Rechtspraxis. Deshalb sollte man bei der Darstellung der Geschichte der Menschenrechte zumindest das islamische Recht und die Praxis muslimischer Herrschaftsgebiete mit einbeziehen. Viel wichtiger als die Frage nach dem Beitrag der Muslime für die Menschenrechtsgeschichte ist die Frage, welche Auswirkungen eine solche Konzeption auf das Menschenbild im Islam hatte und wie dieses in den verschiedenen Bereichen in der Theologie, im Tasawwuf und im islamischen Recht in der Vormoderne zum Ausdruck gebracht wurde. Die Menschenrechtskonzeption der hanafitischen Rechtsschule ist also nicht nur in ihrer Funktion als Vorbereiter oder Ideengeber für die westliche Naturrechtskonzeption von Bedeutung, sondern besitzt Eigenwert und muss im Kontext des islamischen Rechtsdenkens grundsätzlich nochmal neu analysiert werden.
Leseempfehlung: Alexander Bevalacqua, The Republic of Arabic Letters. Islam and the European Enlightenment, London 2018, S. 1-2.
[1] Siehe dazu: Recep Şentürk, Human Rights in Islamic Jurisprudence. Why should All Human Beings Be Inviolable?, in: Allen D. Hertzke (Hg.), The Future of Religious Freedom. Global Challenges, Oxford 2013,S. 290-311.
[2] Ibn Abī Sahl as-Saraḫsī, Uṣūl as-Saraḫsī, hg. von Abū l-Wafā al-Afġānī, Beirut 2005, S. 334.
[3] Siehe dazu: Karen M. Bird, The Concession of Toleration, Muslims and the British Enlightenment, in: Limina. Journal of historical and cultural Studies, Volume 22.2, 2017, S. 15-30. Abrufbar unter: http://www.limina.arts.uwa.edu.au/__data/assets/pdf_file/0008/3033485/Bird_article.pdf (letzter Abruf 14.06.2020)
[4] Alexander Bevalacqua, The Republic of Arabic Letters. Islam and the European Enlightenment, London 2018, S. 1-2.
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