
Die Frage, ob es islamrechtlich erlaubt ist, für den Erwerb von Immobilien Zinskredite bei konventionellen Banken aufzunehmen, beschäftigt die Muslime seit Jahrzehnten und ist auch heute noch ein viel diskutiertes Thema. Die meisten Muslime glauben, dass Bankkredite verboten sind, kaufen aber trotzdem ihre Häuser mit Bankkrediten. Tatsächlich ist das Zinsverbot eines der bekanntesten Gebote des islamischen Rechts. Der Koran geht mit Zinsgeschäften hart ins Gericht: „Diejenigen, die Zinsen nehmen, sind wie jemand, der von Satan gefangen und geschlagen wurde. Dies, weil sie sagen: ‚Das Kaufgeschäft und das Zinsgeschäft sind ein und dasselbe. Gott aber hat das Kaufgeschäft erlaubt und das Zinsgeschäft verboten“ (2/275) An anderer Stelle wird das Zinsgeschäft als Kriegserklärung gegen Gott und die Propheten gedeutet. Was bedeutet dieses Zinsverbot, das eine schwere Sünde und eine Auflehnung gegen Gott darstellt? Sind damit alle Zinsgeschäfte gemeint? Umfasst das koranische Verbot auch heutige Bankgeschäfte und damit auch Immobilienkredite? Das ist die zentrale Frage. Um diese Frage zu beantworten, sollen einige Positionen zeitgenössischer Gelehrter zu diesem Thema dargestellt werden. Dabei beschränke ich mich im Folgenden auf die Positionen des Europäischen Fatwarats und der türkischsprachigen Religionsgemeinschaften in Deutschland zu diesem Thema. Dabei geht es mir nicht um eine umfassende Erörterung aus einer islamrechtlichen Gesamtperspektive, sondern um eine deskriptive Darstellung der Argumentationsgrundlagen der jeweiligen Gemeinschaften.
Die berühmte Fatwa des European Council for Fatwa and Research (ECFR) aus dem Jahr 1999
Im Jahr 1999 erließ der Europäische Rat für Fatwa und Forschung (ECFR) unter dem Vorsitz von Yusuf al-Qaradawi eine Fatwa, die es in Europa lebenden Muslimen erlaubte, für den Erwerb einer Immobilie ein verzinstes Darlehen bei einer konventionellen Bank aufzunehmen. Diese Erlaubnis war mit der Einschränkung verbunden, dass es sich um einen Kredit für den Eigenbedarf handeln müsse und man nicht über die finanziellen Mittel verfügen dürfe, um die Immobilie selbst zu finanzieren. Da es sich um ein sensibles und unter Muslimen viel diskutiertes Thema handelt, wurde die Erlaubnis sehr vorsichtig formuliert und ausführlich diskutiert.
Die Fatwa stellt zunächst klar, dass ein verzinslicher Bankkredit islamrechtlich als ribā zu bewerten und daher verboten ist. Dann wird betont, dass jeder Muslim und insbesondere muslimische Organisationen sich bemühen müssen, alternative Finanzierungswege zu suchen, um nicht das verbotene Bankdarlehen annehmen zu müssen. Wenn es aber keine andere Möglichkeit gebe, eine Immobilie zu erwerben, als einen Kredit bei einer konventionellen Bank aufzunehmen, dann gelte der Rechtsgrundsatz, dass „Not das Verbotene erlaubt“. Der Besitz einer Immobilie gehöre zu den Grundbedürfnissen (ḥawāʾiǧ). Eine Mietwohnung würde dieses Bedürfnis nicht abdecken, da man letztlich weiterhin von anderen abhängig wäre und keine gesicherten Verhältnisse hätte. Ein Bedürfnis wird als Notwendigkeit bewertet, so lautet eine Maxime des islamischen Rechts, wodurch Verbotenes erlaubt werden kann.[1] Die erste Begründung für die Ausnahmeerlaubnis ist also das Prinzip der Zwangslage („Zwangslagen machen verbotene Dinge erlaubt“). Als zweite Begründung greift der ECFR auf die alte hanafitische Ansicht zurück, dass im dār al-ḥarb, also in einem nichtmuslimischen Land, Muslime mit Nichtmuslimen Zinsgeschäfte abschließen dürfen. Solche Verträge seien in einem nichtmuslimischen Land erlaubt und fielen daher nicht unter das Verbot der ribā.
Diese Fatwa wurde international kontrovers diskutiert und hatte neben Befürwortern auch viele Gegner. Amir Zaidan und sein Team haben eine ausführliche Widerlegung dieser Fatwa auf ihrer Homepage veröffentlicht und warnen Muslime vor der Aufnahme von Zinskrediten. Hier wird die Fatwa im arabischen Original und in deutscher Übersetzung wiedergegeben und anschließend versucht, sie zu widerlegen. Beide Argumente des ECFR werden vehement zurückgewiesen. Unter diesem Link geht es direkt zur Fatwa.
Wie gehen die Religionsgemeinschaften in Deutschland mit dieser Frage um?
DITIB-Diyanet
Die DITIB ist der größte muslimische Dachverband in Deutschland mit über 900 Moscheen. Sie orientiert sich in religiösen Fragen weitestgehend an den Vorgaben des Obersten religiösen Rates der Diyanet. Es gibt keine offizielle schriftliche Fatwa der Diyanet, anhand derer die Position zu Bankkrediten ersichtlich wäre. Auf einigen Video-Fatwas wird der Standpunkt jedoch klar erklärt.[2] Die Diyanet lehnt verzinsliche Darlehen strikt ab. Der Erwerb von Wohneigentum sei für die Diyanet kein Grundbedürfnis, auch eine Mietwohnung würde den Bedarf decken. Eine Notlage entstehe erst dann, wenn man Schwierigkeiten habe, eine angemessene Mietwohnung zu finden, in der man ohne finanzielle Engpässe und in Sicherheit leben könne. Erst dann könne man sich auf den Rechtsgrundsatz „Zwangslagen machen Verbotenes erlaubt“ berufen und als letzten Ausweg ein verzinsliches Darlehen aufnehmen. Die Diyanet stellt also strengere Voraussetzungen auf, um von dem Rechtsgrundsatz der Zwangslage Gebrauch machen zu können als der ECFR. Es muss sich tatsächlich um eine Zwangslage handeln. Private Fatwa-Anträge bestätigen diese Haltung. Es müsse immer im Einzelfall entschieden werden, ob eine Kreditaufnahme gerechtfertigt sei oder nicht. Eine generelle Erlaubnis für eine Kreditaufnahme gibt es also nicht. Der wesentliche Unterschied zur ECFR-Fatwa besteht darin, dass die Diyanet eine Eigentumswohnung nicht als Grundbedürfnis ansieht und daher einen Kredit bei einer konventionellen Bank verbietet und nur dann erlaubt, wenn keine angemessene Mietwohnung gefunden werden kann.
Auf der anderen Seite hat die Diyanet zu Beginn dieses Jahres (2020) in einer umstrittenen Fatwa über das Sozialwohnungsprojekt des staatlichen Bauinstituts TOKI die Finanzierung mit Zinsen in diesem speziellen Fall offiziell erlaubt.[4] Mit einem festen Zinssatz von 0,49 % soll Geringverdienern, deren Lebensqualität durch die hohen Mietkosten eingeschränkt ist und die sich aus normalen Mitteln keine Eigentumswohnung leisten können, der Erwerb einer Wohnung ermöglicht werden. Die Diyanet versichert, dass verzinsliche Darlehen jeglicher Art weiterhin verboten sind. In diesem speziellen Projekt handele es sich um ein Entgegenkommen des Staates, dem es nicht um Zinseinnahmen gehe, sondern darum, einkommensschwachen Bürgern den Erwerb von Wohneigentum zu ermöglichen. Allerdings bleiben auch hier die Kriterien der Kreditwürdigkeit unklar. Ab wann und ab welcher Höhe ist eine Miete für eine Familie nicht mehr zumutbar? Spielen nur finanzielle Aspekte eine Rolle oder gibt es auch soziale Gründe? Ähnlich könnten auch viele Muslime in Deutschland argumentieren und damit ihren Wunsch nach Wohneigentum mit zinsgünstigen Krediten legitimieren. In der Praxis gehen viele Imame pragmatisch mit dieser Frage um und erlauben häufig den Erwerb einer ersten Immobilie für den Eigenbedarf. Oft ist es eine Ermessensfrage und auch die Fatwa der Diyanet lässt viel Interpretationsspielraum.
Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) –Hanafitische Position
Der VIKZ hat keine offizielle Fatwa zu diesem Thema. Stattdessen verweisen Imame und Funktionäre auf die oben vom ECFR genannte hanafitische Position und erlauben es den Muslimen prinzipiell Zinskredite aufzunehmen. Der VIKZ hatte schon vor dem ECFR-Fatwa von 1999 diese Meinung vertreten. Laut Abū Ḥanīfa und seinem Schüler Muhammad aš-Šaybānī ist es erlaubt in einem nichtmuslimischen Land Verträge zu schließen, die nach dem islamischen Recht verboten wären. Dazu gehören u.a. Zinsgeschäfte. Allerdings haben die beiden Gelehrten in einem ganz anderen Kontext gelebt und die völkerrechtlichen Kategorien von Dār al-islām und Dār al-ḥarb haben spezifische kontextabhängige Bedeutungen. Die Details sollen hier nicht besprochen werden. Es soll lediglich die Argumentationsgrundlage der jeweiligen Gemeinschaften genannt werden. Auch bei dem VIKZ wird betont, dass man sich möglichst auf den Eigenbedarf beschränken soll. Aber im Grunde genommen wird der Bankkredit in einem nichtmuslimischen Land nicht als Ribā angesehen und ist deshalb grundsätzlich erlaubt. Diese Position wird von den meisten hanafitischen Theologen heute abgelehnt, da sie weiterhin mit den vormodernen Völkerrechtskategorien Dār al-ḥarb und Dār al-islām operiert, die mittlerweile als überholt gelten. Der VIKZ hält jedoch weiterhin an dieser Position fest und interpretiert den Begriff dār al-harb nicht im Sinne von Kriegsgebiet, sondern neutral als „nichtmuslimisches“ Land. Hier geht es also darum, wie vormoderne Fiqh-Konzepte in neuen Kontexten interpretiert und operationalisiert werden. Der VIKZ befürwortet somit grundsätzlich Bankkredite mit der Einschränkung, dass diese nur zur Deckung des Eigenbedarfs an Wohneigentum verwendet werden dürfen.
Milli Görüş und der Religionsrat (DIK)
Die IGMG hat einen Religionsrat, der periodisch zusammenkommt und islamrechtliche Fragen diskutiert und Beschlüsse/Fatwas veröffentlicht. So werden die offiziellen Fatwas der Gemeinschaft in Buchform veröffentlicht. In der Frage nach Zinskrediten für Immobilien teilen sie die Meinung des ECFR, dass es für den Eigenbedarf erlaubt ist. Aber argumentiert wird nicht mit dem Prinzip der Zwangslage, sondern wie folgt. Die Finanzierung einer Immobilie mit einem Zinskredit sei nicht als Ribā zu bewerten und falle daher nicht unter das Zinsverbot, auch wenn es in konventionellen Banken Zins genannt werde. Da ein Zinskredit für einen Immobilienkauf in konventionellen Banken nur durch ein Zustandekommen eines Kaufvertrags der Immobilie wirksam werde, handele es sich bei dieser Art der Finanzierung um eine Art murābaḥa (Auftragskauf mit Gewinnmarge), die im islamischen Recht erlaubt ist. Der Käufer erteile der Bank den Auftrag, eine Immobilie zu erwerben, um sie ihr zu bestimmten Konditionen abzukaufen. Da die Bank das Geld dem Schuldner nicht zur freien Verfügung stellt, sondern nur für den Erwerb der Immobilie, könne man diese Transaktion nicht als Ribā bezeichnen. Es wird so bewertet, als ob die Bank die Immobilie erwirbt und für einen Gewinnabschag an den Kunden in Raten verkauft. Das, was die Bank Zinsen nennt, könne man islamrechtlich als Gewinnabschlag definieren. Da eine solche Finanzierungsform in der klassischen Rechtstradition nicht vorhanden war und deshalb islamrechtlich nicht erfasst wurde, könne man es als eine Form der murābaḥa einstufen. Nach dieser Argumentation müsste eigentlich jeder Bankkredit, mit dem eine bestimmte Ware finanziert wird, erlaubt sein. Deshalb beschränkt die Fatwa-Abteilung der Millî Görüş die Verwendung des Immobilienkredits auf den einmaligen Eigenbedarf und bekräftigt den Bedarf nach islamischen Finanzierungsmodellen.[5] Ähnlich argumentiert auch die ägyptische Dār al-iftā[6].
Fazit
Die allermeisten hier beschriebenen Moscheevereine schlagen einen pragmatischen Weg ein und erlauben in der Regel Zinskredite für den Eigenbedarf. Der ECFR betrachtet den Besitz einer Immobilie als Grundbedürfnis und legitimiert damit die Umgehung des Ribā-Verbots. Für die Diyanet deckt eine „vernünftige“ Mietwohnung diesen Bedarf ab, weshalb der Besitz einer Immobilie nicht zu den Grundbedürfnissen zählt und ein Zinskredit deshalb grundsätzlich nicht erlaubt wird. Wann es sich um eine vernünftige, angemessene Mietwohnung handelt und ab wann es doch „notwendig“ sein könnte eine Immobilie zu erwerben, hängt von den jeweiligen Kontexten ab. Beide Argumentationen haben ihre Plausibilität, wobei bei beiden ein großer Spielraum vorhanden ist, den die Akteure entsprechend der Kontexte auslegen können. Für den VIKZ und für die IGMG stellt sich diese Frage nach dem Grundbedürfnis erst einmal nicht, da sie den Zinskredit für Immobilien grundsätzlich nicht als Ribā einstufen und damit für erlaubt erklären. VIKZ bemüht das alte hanafitische Argument, dass in einem nichtmuslimischen Land das Ribā-Verbot nicht gültig ist. Die IGMG bewertet den Immobilienkredit von konventionellen Banken als eine Form des murābaḥa (des doppelten Kaufgeschäfts) und damit nicht als Ribā. Dennoch empfehlen sie lediglich für den Eigengebrauch Kredite zu nehmen. Die grundsätzliche Frage lautet also nicht ob „Ribā“ erlaubt ist oder nicht (über diese Frage gibt es keine zweite Meinung), sondern ob die bei Immobilienkrediten anfallenden Zinsen als Ribā eingestuft werden oder nicht. Wie in fast jeder Fiqh-Angelegenheit gibt es also auch in dieser Frage Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gelehrten.
[1] Alexandre Caeiro, Sharīʿa: Bank Interest, Home Purchase, and Islamic Norms in the West, in: Die Welt des Islam, Vol.44,3, 2004, S. 351-375.
[2] https://www.youtube.com/watch?v=W68btysszVc&feature=youtu.be, https://www.youtube.com/watch?v=osIJzedgMCE
[3] https://www.youtube.com/watch?v=osIJzedgMCE
[4] https://www.diyanet.gov.tr/tr-TR/Kurumsal/Detay/26257/basin-aciklamasi
[5] Vgl. IGMG Din Istişare Kurulu, Fetava. IGMG Din Istişare Kurulu Araştırma ve Kararları I, Köln, 2014, S. 96.
[6]. https://www.dar-alifta.org/en/fatwa/details/6610/is-taking-a-mortgage-allowed-in-islam. Auch Atabek Shukurov vertritt eine ähnliche Auffassung https://www.youtube.com/watch?v=wtY-CeSHkSI, https://sulaimanahmed.com/2017/07/28/mortgages-part-1/; https://sulaimanahmed.com/2017/07/28/mortgages-part-2/
[7] https://www.youtube.com/watch?v=wtY-CeSHkSI, https://sulaimanahmed.com/2017/07/28/mortgages-part-1/; https://sulaimanahmed.com/2017/07/28/mortgages-part-2/
Herzlichen Dank für diese kompakte und aufschlussreiche Darlegung der unterschiedlichen Positionen türkischsprachiger Moscheevereine in Deutschland zum Thema Zinskredit!
LikeGefällt 1 Person
Vielen Dank für diese Aufstellung. Es ist interessant zu lesen, wie unterschiedlich die Auslegungen ausfallen und begründet werden.
LikeGefällt 1 Person