Averroes als Salafist! Warum Ibn Rušd in der islamischen Welt keine Berücksichtigung fand?

Die Erzählung vom „Goldenen Zeitalter“ und „Niedergang“ der islamischen Philosophie

In der gängigen Historiographie der islamischen Philosophie wird die Zeit vom 9.-11. Jahrhundert als das goldene Zeitalter des philosophischen Denkens im Islam dargestellt, an dessen Höhepunkt sich das geistige Schaffen Ibn Sīnās (gest. 1037) befindet. Mit der Machtübernahme der Seldschuken in Bagdad und den philosophie-kritischen Werken al-Ġazzālīs (gest. 1111) habe das rationale Denken jedoch an Resonanz verloren und sei durch die islamische Orthodoxie fortan bekämpft worden. Al-Ġazzālī habe der Philosophie nach diesem Narrativ den Todesstoß versetzt, von dem sie sich nie mehr erholen konnte. Ein letztes Aufbäumen sei aus dem fernen al-Andalus gekommen, in dem der arabische Philosoph Ibn Rušd versucht hatte, das Erbe Aristoteles‘ und damit auch die Philosophie in der islamischen Welt wiederzubeleben. Aber auch er sei letztendlich daran gescheitert, so dass sein Todesjahr 1198 auch zum Todesjahr der islamischen Philosophie erklärt wurde. Während Averroes durch lateinische Übersetzungen seiner Aristoteleskommentare einen erheblichen Einfluss auf das abendländische Denken und durch die hebräischen Übersetzungen auf das jüdische Denken hatte, wurde er in der islamischen Welt kaum rezipiert. Es sind kaum arabische Handschriften seiner Aristoteleskommentare vorhanden. Während also der Westen durch die Rezeption Averroes einen neuen Aufschwung erlebte, ging es in der islamischen Welt, so die gängige These, durch die Ablehnung von Averroes den Bach herunter und es begann ein Niedergang, welcher bis zur Kolonialisierung der islamischen Welt durch den Westen andauerte. Diese Narrative werden zwar seit langem nicht mehr in der Fachwelt vertreten, aber in der populärwissenschaftlichen Literatur erfahren sie weiterhin eine große Beliebtheit.1 Interessant ist, dass sogar viele Dozenten in den theologischen Fakultäten der Türkei oder in der arabischen Welt weiterhin an dieser Niedergangstheorie der Philosophie nach al-Ġazzālī festhalten. Diese Erfahrung habe ich noch letztes Jahr an der theologischen Fakultät in Ankara mit Kalām- und Philosophiedozenten machen müssen. Wäre die islamische Welt nicht al-Ġazzālī, sondern Ibn Rušd gefolgt, so die These, hätte auch die islamische Welt eine erneute intellektuelle Blüte erlebt.2

Al-Ġazzālī und die Intellektualisierung der islamischen Theologie

Dass Ibn Rušd in der islamischen Philosophiegeschichte kaum rezipiert wurde, stimmt. Der Grund lag aber nicht darin, dass die Muslime eine philosophiefeindliche Haltung hatten und das rationale Denken durch die Orthodoxie unterdrückt wurde. Ganz im Gegenteil, die Philosophie befand sich im 13. Jahrhundert auf dem Höhepunkt, so dass philosophische und naturwissenschaftliche Bildung seit dem 12. und aller spätestens nach dem 13. Jahrhundert zum Standardrepertoire eines Religionsgelehrten gehörten und somit zum Allgemeingut wurden. Wir haben es also mit einer Intellektualisierung der islamischen Orthodoxie zu tun und nicht mit einer Bekämpfung des rationalen Denkens. Al-Ġazzālī verurteilt in seinen Werken nicht die Philosophie per se, sondern unterzog die Ibn Sinische Philosophie, also eine bestimmte Form des Philosophierens, einer fundamentalen Kritik in modernen philosophischer Manier. Denn al-Ġazzālī selbst war ein hochkarätiger Philosoph und ein kritischer Geist. Er hat aber nicht nur die Ibn Sinische Philosophie, sondern auch die islamische Dogmatik und das islamische Rechtsdenken einer fundamentalen Kritik unterzogen und methodisch eigene Lösungen entworfen. Durch al-Ġazzālīs Wirken wurde die Logik und allgemein die Philosophie ein integraler Bestandteil des theologischen Curriculums und musste fortan von jedem studiert werden. Der Streit zwischen al-Ġazzālī und Ibn Rušd war also nicht der Streit zwischen Vernunft und Offenbarung, für oder gegen Philosophie, sondern der Streit zweier Philosophen über die richtige Form der Philosophie. Eine Dichotomie zwischen Vernunft und Offenbarung oder zwischen Wissenschaft und Religion gab es in der islamischen Ideengeschichte kaum. Und trotz dessen stellt sich hier die Frage, wieso Ibn Rušd, anders als al-Ġazzālī, konsequent vernachlässigt wurde.

Ibn Rušd als Faqīh

Ibn Rušd war nicht „nur“ ein Philosoph, sondern auch ein begnadeter Rechtsgelehrter, der 26 Jahre lang unter der almohadischen Herrschaft in Cordoba und in Nordafrika als Richter tätig war. Im Bereich des islamischen Rechts hat er zwei Werke verfasst, die uns erhalten geblieben sind. Einmal das voluminöse rechtsvergleichende Werk „Bidāyatu’l-muǧtahid wa nihāyatu’l-muqtaṣid“, worin er rechtsschulübergreifend das gesamte Rechtsmaterial komparativ darstellt und die Gründe der Meinungsverschiedenheiten zwischen den Rechtsgelehrten meisterhaft zu erklären versucht.

Sein zweites Werk ist ein Uṣul al-Fiqh-Werk mit dem Titel Aḍ-ḍarūrī fī uṣūli’l-fiqh, welches er in seinen jungen Jahren verfasst hat und noch stark unter dem Einfluss von al-Ġazzālī stand.Als Jurist war er zu seiner Zeit sehr geschätzt, aber sein Einfluss auf die malikitische Rechtstradition war sehr bescheiden. Auch im Bereich des Rechts wurde er also ähnlich wie in der Philosophie kaum berücksichtigt. Erst in der Moderne durch die Reformbewegungen wurde sein juristisches Denken wieder als relevant erachtet und rezipiert.

Der Salafist unter den Philosophen! Warum Ibn Rušd nicht rezipiert wurde?

Die Nichtberücksichtigung Ibn Rušds lag vielmehr darin begründet, dass er zu diesem Zeitpunkt eine Philosophie vertrat, nämlich eine Rückkehr zu Aristoteles, die in der islamischen Welt schon längst veraltet und deshalb nicht mehr interessant war. Ob diese Haltung berechtigt war oder nicht, ist eine andere Frage. Die islamische Welt hatte die Auseinandersetzung mit Aristoteles und der Kommentartradition schon hinter sich und die neue Koryphäe der Philosophie war fortan der Perser Ibn Sina. Seine neue Synthese in seinem Opus Magnum, Kitāb al-Šifāʾ, in dem er die gesamte philosophische Tradition in einer neuen Synthese präsentierte, bestimmte die Art und Weise des Philosophierens in der Folgezeit. Ibn Rušd hingegen ignorierte die jahrhundertelange Philosophietradition und plädierte für eine Rückkehr zu den Ursprüngen der „reinen“ Philosophie von Aristoteles; man könnte sagen ein „philosophischer Salafismus“. Al-Ġazzālī hat sich mit der „neuen“ Philosophie Ibn Sīnās kritisch auseinandergesetzt und wichtige Impulse für deren Weiterentwicklung geliefert. Ibn Rušd wiederum beteiligte sich nicht am aktuellen Diskurs und suchte die Lösung in der Widerbelebung der damals als veraltet betrachteten aristotelischen Philosophie. Weshalb er in der Folgezeit nie als ein relevanter Philosoph erachtet und deshalb nicht weiter berücksichtigt wurde, obwohl man seine Werke sogar bei den späten Osmanen im 17.-18. Jahrhundert kannte. Ibn Rušd war sicherlich und ohne Zweifel ein großer Philosoph, aber für die islamische Welt damals ein sehr konservativer, old-school-Philosoph, der für die Entwicklung der Philosophie und Naturwissenschaften im Osten als irrelevant betrachtet wurde. Für den Westen waren die Werke von Averroes von großer Bedeutung, weil die Beschäftigung mit Aristoteles dadurch erst ermöglicht wurde und noch in den Kinderschuhen steckte. Beide Zivilisationen haben sich also unterschiedlich entwickelt und haben deshalb unterschiedliche Werke als relevant erachtet. Da aber der Blick auf die islamische Philosophie aus einer eurozentristischen Perspektive erfolgte, musste Averroes auch dort eine zentrale Rolle einnehmen. Deshalb wurde seine Abwesenheit quasi als Beweis der Niedergangsthese interpretiert. Die islamische Geistesgeschichte muss deshalb von einer eurozentristischen Perspektive befreit und mit ihrem eigenen Selbstverständnis erforscht werden. Dabei ist ein ganzheitlicher Zugang zur islamischen Geistesgeschichte vonnöten. Denn genauso wie al-Ġazzālī ohne die Vorleistungen Ibn Sīnās nicht verstanden werden kann, lässt sich auch ein Ibn Rušd ohne die Vorleistungen eines al-Gazzālīs nicht verstehen. Nur in dieser Kontinuität lassen sich die Leistungen der einzelnen Denker einordnen und erschließen. Es geht also nicht um ein „entweder al-Ġazzālī oder Ibn Rušd“, sondern vielmehr um ein ganzheitliches Verständnis der islamischen Geistesgeschichte, in dem jeder Denker seinen berechtigten Platz einnimmt.

Lektüreempfehlung: Ibn Rushd, Maßgebliche Abhandlung- Faṣl al-maqāl, aus dem Arabischen übers.und hg. Von Frank Griffel, Berlin 2010.  

1 Ein Beispiel für eine solche Niedergangserzählung gibt es in diesem Artikel https://de.qantara.de/inhalt/al-ghazalis-verhaeltnis-zur-wissenschaft-der-missverstandene-philosoph.

2 Siehe z.B. auch Hamed Abdul-Samed/Mouhanad Khourchide, Ist der Islam noch zu retten. EIne Streitschrift in 95 Thesen, Herder 2019.

2 Kommentare zu „Averroes als Salafist! Warum Ibn Rušd in der islamischen Welt keine Berücksichtigung fand?

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  1. Sehr aufschlussreich! Auch ich las die maßgebliche Abnhandlung in der Übersetzung Griffels einschließlich Kommentar und schöpfte daraus. Der so plausible Gedanke, der hier geäußert wird, kam mir nicht, umso dankbarer bin ich, dies zu lesen.

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