Rezension: David Nirenberg, Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, C.H. Beck, München 2015, 587 Seiten.
Nirenberg stellt die kritische Frage, wie es sein konnte, dass in der Mitte des 20. Jahrhunderts viele der gebildetsten Bürger der Welt bereit waren zu glauben, dass die Juden eine so große Gefahr für die Welt seien, dass sie vernichtet werden müssten.
Nirenbergs „Antijudaismus“ zeichnet eine fast 3000-jährige detailreiche und spannende Geschichte des Nachdenkens über das Judentum in der westlichen Welt nach. In 13 Kapiteln untersucht Nirenberg auf 579 Seiten (davon 474 Seiten Text und 105 Seiten Anmerkungen), wie der Antijudaismus die gesamte Geschichte des westlichen Denkens durchzieht und immer wieder von christlichen Theologen, Philosophen, Politikern und Dichtern als Welterklärungsmuster herangezogen wurde. „Mein Ziel liegt darin zu zeigen, wie an jedem Ort zu jeder Zeit, vom alten Ägypten bis ins 20. Jahrhundert, verschiedene Menschen alten Ideen über das Judentum neue Funktionen beim Nachdenken über ihre Welt zuwiesen; wie diese Funktionen sich mit der Vergangenheit auseinandersetzten und sie dadurch transformierten; und wie sie schließlich die Möglichkeiten des Denkens über die Zukunft formten.“ (S. 17). Ihm geht es also primär darum, die Funktion des Antijudaismus in der westlichen Welt zu verstehen und ideengeschichtlich zu zeigen, welche Aufgaben ihm als Welterklärungsmodell in den
verschiedenen Epochen zukamen. Der Antijudaismus ist nicht bloß eine Haltung gegenüber Juden, sondern „ein Weg sich kritisch mit der Welt auseinanderzusetzen“ (S. 15). Deshalb funktioniert er auch ohne reale Juden. In den meisten Fällen sind die antijüdischen Diskurse nicht als Reaktion auf eine reale jüdische Existenz entstanden, sondern als Denkfiguren, um politische Gegner und Widersacher zu diskreditieren und die eigene Identität gegenüber einem vermeintlich übermächtigen Gegner zu stärken. So wurden in frühchristlichen Jahrhunderten, im Mittelalter und während der Reformation innerchristliche Glaubenskämpfe stets mit dem Bezug auf das Judentum geführt. Luther wurde von den Propagandisten der päpstlichen Partei als Judenvater beschimpft, der seine Lehren von den Juden gelernt hätte. Im Gegenzug kritisierte Luther die katholische Kirche, indem er stets Vergleiche mit den Juden zog und sie mit „Gesetzlichkeit“, „Pharisäertum“ und „Judentum“ gleichstellte, als „des Teufels Synagoga“ und den Papst als „Papensau“ (in Analogie zur „Judensau“) beschimpfte. Ähnliche Argumente lassen sich in unterschiedlichen Epochen auffinden.
Nirenberg stellt die kritische Frage, wie es sein konnte, dass in der Mitte des 20. Jahrhunderts viele der gebildetsten Bürger der Welt bereit waren zu glauben, dass die Juden eine so große Gefahr für die Welt seien, dass sie vernichtet werden müssten. Dabei geht es ihm aber nicht um die Ursachen des Holocausts, sondern um die Frage, wie ein solches Denken überhaupt möglich wurde. Um dieser Frage nachzugehen, zeichnet er die verschiedenen Diskurse über das Judentum in den unterschiedlichen Epochen nach, angefangen im alten Ägypten über die griechische Antike und das römische Reich. Im Zusammenhang mit der frühen christlichen Geschichte wird das Neue Testament mit besonderem Schwerpunkt auf Paulus behandelt, bevor die frühe Kirche und die Kirchenväter thematisiert werden. In einem Exkurs behandelt Nirenberg auch die islamische Welt und das Judenbild in der frühen islamischen Geschichte, bevor er mit der mittelalterlichen europäischen Geschichte fortfährt. Über die spanische Inquisition, Luthers Deutschland und die Reformation, Shakespeares England, Voltaires Frankreich, die Französischen Revolution, die Philosophen der Aufklärung (von Kant bis Heine) gelangt er schließlich zu den modernen Diskussionen über das Judentum mit Karl Marx, Max Weber, Heidegger bis hin zu Göbbels im Nazideutschland.
Nirenberg zeigt anhand peinlichst genauer und geistreicher Analyse von Primärquellen überzeugend, dass antijüdische Denkmuster von den alten Ägyptern bis zu den Nazis im 20. Jahrhundert die gesamte westliche Geschichte hinweg durchziehen und als Erklärungsmodell dienen. Er warnt jedoch vor schnellen Kurzschlüssen. Die Geschichte sei keineswegs kausal, linear oder evolutionär. Die Beziehung zwischen Göbbels und den Evangelien sei alles andere als kausal, aber dennoch gäbe es Beziehungen, die es aufzudecken gelte. Hier stellt Nirenberg elementare Fragen für jede Ideengeschichte: Inwiefern spielt die Vergangenheit für das Gegenwärtige eine Rolle? Schränkt das in den Jahrhunderten zuvor Gedachte unser Denken heute ein? Die judenfeindlichen Äußerungen mussten nicht zwangsläufig zu einer antisemitischen Haltung oder gar Gräueltaten gegenüber Juden führen. Das Potenzial allein reicht nicht aus, es müssen weitere Variablen hinzukommen, damit das bestehende Potenzial realisiert wird. „Ich sage zum Beispiel nicht“, schreibt Nierenberg, „die Evangelien hätten den Völkermord verursacht oder Paulus sei verantwortlich für die vielgestaltige Zukunft seiner Warnung .“ (S. 459) Die Jahrhunderte alten antijüdischen Narrative haben nicht automatisch zur Entstehung der antisemitischen Ideologie und der Perversion des Holocausts im 20. Jahrhundert geführt, aber sie haben
Nirenberg zufolge die kulturellen und politischen Grundlagen gelegt, auf denen solche Ideologien gedeihen konnten. Denn zwischen den Ideen der Vergangenheit und der Gegenwart lassen sich verschiedene Formen von Beziehungen herstellen, durch welche die Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirken kann:
„Ich glaube […], dass ohne diese tiefe Ideengeschichte der Holocaust unvorstellbar war und unerklärlich ist.“ (ebd.) Das Buch hat die Aufgabe, diese Beziehungen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem aufzuzeigen und die Kontinuitäten sichtbar zu machen. Seine gewagte, aber im gesamten Buch sehr gut belegte Hauptthese formuliert der Autor wie folgt: „In allen Kapiteln werden wir betonen, dass der Antijudaismus nicht als archaische oder irrationale Kammer im weiten Gebäude des westlichen Denkens zu verstehen ist, sondern als eines der grundlegenden Werkzeuge beim Bau dieses Gebäudes.“ (S. 18) Auch im islamischen Kontext, vor allem in den Offenbarungstexten und in der frühen islamischen Geschichte, hatte das Judentum laut Nirenberg eine ähnliche Funktion als Welterklärungsmodell zu dienen: Sowohl im Koran als auch in den Hadithen lassen sich ähnliche judenkritische Äußerungen finden wie im Neuen Testament und in den Äußerungen der Kirchenväter. Jedoch sei dieses antijüdische Potenzial im Vergleich zur christlichen Welt selten in die Realität umgesetzt worden: „Die Geschichte der Auseinandersetzung des Islam mit seinen jüdischen Freunden und Feinden ist eine ganz andere als etwa die des katholischen Christentums.“ (S. 185) Auch in der islamischen Geschichte finden sich Beispiele, in denen antijüdische Stimmung zu gewaltsamen Folgen führte, wie im Falle Ibn Hazms, der im Vorfeld des Massakers gegenüber tausenden Juden in Granada im Jahre 1066 unter Verwendung von Koranversen und Hadithen eine antijüdische Stimmung erzeugte. Diese seien jedoch Ausnahmen: „Es gab nicht viele Vertreter wie Ibn Hazm in der islamischen Welt des Mittelalters und auch nicht viele Massaker an oder Massenvertreibungen von Juden“ (S. 189). Die Ausnahmen zeigen aber, dass dieses antijüdische Potenzial in einem ideologisch günstigen Kontext wieder abgerufen werden kann, wie wir es auch im Zuge des Nahostkonfliktes erleben.
Ein Buch, das eine Zeitspanne von fast 3000 Jahren und unterschiedlichste Regionen behandelt, muss unvermeidbar selektiv vorgehen und viele Punkte werden wohl nicht unwidersprochen bleiben. Nirenberg kann aber seine Leser aufgrund seiner detailreichen und nachvollziehbaren Analysen in den meisten Fällen von seiner These überzeugen, weshalb das Buch das Prädikat „Meisterwerk“ voll und ganz verdient.
Zuerst veröffentlicht in: Hikma 11 (2017), 301-304.
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