
Die Stadt Konstantinopel wurde von den Osmanen nach einer fast zweimonatigen Belagerung am 29. Mai 1453 kriegerisch eingenommen. Die Frage, ob eine Stadt kriegerisch (ʿanwatan) oder auf friedlichem Wege durch Vertrag (sulhan) eingenommen wurde, hatte nach dem islamischen Recht konkrete rechtliche Konsequenzen für das eroberte Gebiet. Wenn eine Stadt sulhan eingenommen wurde, blieben Besitz, Freiheit und die Gebetsstätte der Eroberten unangetastet. Wenn ein Gebiet jedoch Widerstand leistete und letztendlich mit Gewalt eingenommen wurde, hatte dies zur Folge, dass theoretisch geplündert und das gesamte Gebiet bis zur vertraglichen Einigung konfisziert werden konnte. Die Entscheidung lag beim Herrscher, der entsprechend des Allgemeinwohls (maṣlaḥa) entscheiden sollte. Die terminologische und rechtliche Unterscheidung zwischen sulhan und ʿanwatan geht auf die Phase nach den frühen Eroberungsbewegungen in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts zurück und wurde im Laufe der Zeit in den Diskursen der verschiedenen Rechtsschulen ausgearbeitet. Genau genommen ging es um Diskussionen wie, wie hoch die Steuerlast der Bevölkerung in den eroberten Gebieten sein darf, wie mit Kriegsgefangenen verfahren werden sollte, was als Staatseigentum oder Privateigentum zu gelten hat, welche Rechte und Privilegien nichtmuslimischen Bewohnern gewährt werden sollten, welchen rechtlichen Status die Ländereien haben, usw. Um diese Fragen zu klären, wurden die frühen Eroberungszüge der rechtgeleiteten Kalife rückwirkend unter diesen Gesichtspunkten betrachtet, um ausgehend davon bewerten zu können, ob ein Gebiet sulhan oder anwatan eingenommen wurde. Die Praxis des Propheten und der rechtgeleiteten Kalifen dienten dabei als Grundlage für die spätere Ausarbeitung dieser Konzepte. Es sind also keine unmittelbar aus dem Koran und aus der Sunna hervorgehende Konzepte, sondern wurden von den Rechtsgelehrten ausgehend von den jeweiligen historischen Bedingungen, die sich durch die Eroberungsbewegungen ergeben haben, entwickelt. Im Folgenden soll nur kurz darauf eingegangen werden, welche Implikationen damit für die Kirchen in den neu eroberten Gebieten verbunden waren.
Aus der islamischen Frühzeit ist die Geschichte des zweiten Kalifen Umar ibn al-Khattab bekannt, welcher in Jerusalem (637) darauf verzichtete sein Gebet in der Grabeskirche zu verrichten, mit der Befürchtung die Muslime würden diese in eine Moschee umwandeln. Jerusalem wurde, wie viele andere Städte auch, nicht kriegerisch, sondern nach Verhandlungen auf friedlichem Wege eingenommen. Die Unversehrtheit und der Schutz der nichtmuslimischen Bevölkerung Jerusalems wurden in einem Vertrag garantiert. Es gibt eine Vielzahl von solchen Verträgen aus der Frühzeit, die man z.B. im Geschichtswerk Tārīḫ ar-rusul wa l-mulūk von Ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarī finden kann. In der Regel haben muslimische Eroberer in der Frühzeit, auch wenn sie eine Stadt kriegerisch eingenommen haben, repräsentative Kirchen nicht in Moscheen umgewandelt. Da die ersten Eroberer sich nicht vermehrt in den eroberten Städten, sondern getrennt in neu gegründeten Städten oder in Garnisonsstädten wie Fustat (641), Kairoan (670), Kufa (637) oder Basra (636) niedergelassen haben, waren antike Städte wie Damaskus, Jerusalem, Alexandria, Diyarbakır (Amid) oder Urfa (Ruha, Edessa) weiterhin christlich dominiert mit einer zunächst kleinen muslimischen Bevölkerung, weshalb sie dort auch mit kleinen Moscheen auskommen konnten. In den von Muslimen gegründeten Städten hingegen wurden größere Moscheen gebaut, wie die Amr ibn al-Ās-Moschee in Fustat. In Damaskus errichteten sie im Jahre 636 die erste Moschee direkt in der Nachbarschaft der Johannesbasilika, so dass Moschee und Kirche im Stadtzentrum etwa 80 Jahre gemeinsam standen. In antiken Städten befanden sich die Tempel und später die Hauptkirchen im Zentrum der Stadt und um diese Tempel herum haben sich die Städte entwickelt. Das, was im Stadtzentrum stand, prägte auch das Stadtbild. Erst im Laufe der Zeit etwa nach 70-80 Jahren, als die muslimische Bevölkerung in diesen „antiken“ Städten zugenommen hatte, begannen sie nun größere Moscheen zu errichten und die Präsenz des Islams im Stadtbild sichtbarer zu machen. Dazu mussten sie die „Zentren“ in Anspruch nehmen. Die Erweiterung der Umayyadenmoschee in Damaskus auf Kosten der Johannesbasilika fand in diesem Kontext zwischen den Jahren 708-715 statt. Je mehr die muslimische Bevölkerung wuchs, desto notwendiger wurden neue Räume für das soziale und religiöse Leben. Dies führte zu neuen Aushandlungsprozessen mit den nichtmuslimischen Gemeinschaften, in denen die Hierarchien, Privilegien, Rechte und Pflichten immer wieder neu verhandelt wurden. Interessant ist, dass die Diskussionen, ob Damaskus friedlich (sulhan) oder kriegerisch (anwatan) eingenommen wurde, genau in dieser Zeit stattfanden und zwar zeitgleich im Irak, Ägypten und in Syrien. In Bezug auf die Johannesbasilika und die Erweiterung der Umayyadenmoschee ging es unter anderem um die Frage, ob die Herrscher das Recht hatten, die Johannesbasilika für die Erweiterung der Moschee zu enteignen, wenn die melkitische Gemeinde das Gebäude nicht freiwillig zu verkaufen bereit wäre.
Über die muslimische Eroberung von Damaskus im Jahre 634 durch Khālid ibn Walīd und dem Oberbefehlshaber Abu ʿUbaida ibn al-Ǧarrāḥ gab es allerdings interessante Details: Wie die Historiker berichten, drang Khālid ibn Walīd mit seiner Truppe während der Belagerung vom Osteingang in die Stadt und kämpfte solange gegen die byzantinischen Streitkräfte, bis er sie besiegte. Zur gleichen Zeit handelte Abū ʿUbaida ibn al-Ǧarrāḥ mit den Byzantinern am anderen Ende der Stadt einen Friedensvertrag aus und nahm die Stadt friedlich ein. Beide sollen sich am selben Abend in der Mitte getroffen haben. Ausgehend von diesen Berichten gab es eine breite Diskussion unter den Rechtsgelehrten, ob die Stadt nun als sulhan oder anwatan zu bewerten galt. Während der damalige Kalif al-Walīd sich für die anwatan-Interpretation entschied und die Gemeinde zwang, die Kirche zu verkaufen, folgte der spätere Kalif ʿUmar ibn Abd al-aziz (717) der sulhan-Auslegung und entschädigte die melkitische Gemeinde mit mehreren Kirchengebäuden außerhalb von Damaskus. Beide Interpretationen konnten sich auf die Praxis der Prophetengefährten berufen und konnten somit legitimiert werden.
Die wachsende muslimische Bevölkerung brachte also neue Fragen mit sich, die neu verhandelt wurden. Damaskus blieb aber weiterhin überwiegend christlich, genauso wie Jerusalem. Auch dreihundert Jahre nach der muslimischen Eroberung Jerusalems war die Stadt mehrheitlich von Christen bewohnt, so dass dort um das Jahr 950 herum etwa 20 Moscheen, aber 50 Kirchen existierten. Erst im Laufe des 11. Jahrhunderts sollte es in Syrien und Palästina eine muslimische Mehrheit geben. Erst nach etwa drei bis vier Jahrhunderten nach dem Tode des Propheten bildeten also Muslime in der Levante, in nordafrikanischen Gebieten, in Andalusien oder im Irak die Mehrheit. Wenn wir also von „muslimischen Gesellschaften“ reden, müssen wir immer mit bedenken, dass sie nicht rein muslimisch waren, sondern immer durchmischt, in denen die Muslime in den ersten drei Jahrhunderten oft sogar die Minderheit waren. Aufgrund demographischer Entwicklungen wurden im Laufe der Zeit weitere Kirchen in den verschiedenen Regionen in Moscheen oder Medresen umgewandelt, weshalb solche Fragen weiterhin relevant blieben. In den meisten Fällen befanden sich diese Kirchen in Gebieten, die mit der Zeit mehrheitlich von Muslimen besiedelt waren und deshalb keine Gemeinde mehr hatten, aber in der Regel wurden die Kirchengemeinden entschädigt. Die symbolische Umwandlung von Kirchen in Moscheen fand in den ersten Jahrhunderten, bis auf wenige Ausnahmen, kaum statt. Erst nach den Kreuzzügen, bzw. als Reaktion auf die Zerstörung der Moscheen durch die Kreuzfahrerstaaten in Urfa, Beirut, Antiochia oder Jerusalem, beginnt die Praxis der symbolischen Umwandlung der größten Kirchen der Stadt in Moscheen. Parallel dazu beginnt in Andalusien die sogenannte „Reconquista“, in deren Folge, angefangen von den größten Moscheen, schrittweise alle Moscheen verkirchlicht wurden. Das erste zelebrierte Beispiel ist die Umwandlung der großen Moschee Toledos im Jahre 1087 in eine Kirche, etwa 150 Jahre vor der bekannten Mezquita in Cordoba. Diese Praxis sollte bis zur Eroberung Granadas im Jahre 1492 fortgeführt werden. All diese Beispiele wurden in der islamischen Welt natürlich zur Kenntnis genommen.
Die ersten Beispiele von symbolischen Umwandlungen bilden die Rückumwandlungen der unter den Kreuzfahrern verkirchlichten Moscheen unter den Zangiden, Ayyubiden, Seldschuken und Mamluken zwischen dem 12.-13. Jahrhundert. Die von den Kreuzfahrern im Jahre 1184 erbaute St. Johannes Kathedrale in Beirut wurde beispielsweise nach der mamlukischen Eroberung Beiruts im Jahre 1291 als Zeichen des Sieges in eine Moschee umgewandelt und erhielt den Namen al-masǧid al-ʿUmarī al-Kabīr. Die Osmanen führten diese Tradition fort, indem sie in den kriegerisch eroberten nichtmuslimischen Gebieten in der Regel die Kirche mit der größten Symbolkraft in eine Moschee umwandelten. Aber auch hier gab es unterschiedliche Handhabungen, je nach Kontext. Es gibt also nicht die eine „islamische“ Herangehensweise, sondern verschiedene kontextbedingte Praktiken. Deshalb sollte man nicht voreilig eine bestimmte Praxis als islamisch und andere als unislamisch klassifizieren. Das islamische Völkerrecht ist nicht etwas ahistorisches, sondern hat sich immer entsprechend der historischen Bedingungen herausgebildet und wurde je nach Bedarf erweitert oder modifiziert. Wobei bestimmte Kernelemente immer geblieben sind, wie z.B. dass Andersgläubige (egal welchen Glaubens und nicht nur auf Juden und Christen beschränkt) als ein integraler Bestandteil im muslimischen Gemeinwesen ihre Religion praktizieren konnten. Bis auf wenige Ausnahmen wurde die christliche Bevölkerung in muslimischen Gebieten in der Vormoderne, bevor der Nationalismus auf allen Seiten alles zerstörte, nie systematisch verfolgt oder ausgegrenzt. Sie hatten einen gesicherten Rechtsstatus, der ihnen zwar nicht die gleichen Rechte, aber dauerhaften Schutz garantierte. Dieses Recht auf Schutz und Glaubensfreiheit wurde nicht dem Ermessen des Herrschers überlassen, sondern galt als religiöse Verpflichtung, an die sich alle Herrscher zu halten hatten. Das Osmanische Reich muss ebenfalls in dieser Tradition verortet werden, auch wenn es kontextbedingt in manchen Bereichen andere Konventionen entwickelt hat. Auch in Bezug auf das Zusammenleben zwischen Muslimen und Nichtmuslimen im muslimischen Gemeinwesen gab es je nach Vereinbarung und Kontext unterschiedliche Formen des Zusammenlebens, die von Diskriminierung bis hin zur Gleichberechtigung führten, aber fast nie zu einer Verfolgung. Es gibt aber auch viele Beispiele aus der osmanischen Zeit, in denen trotz kriegerischer Einnahmen alle Kirchen verschont blieben, wie in vielen Gebieten auf dem Balkan. Das gesamte bulgarische Gebiet wurde im 14. Jahrhundert weitestgehend friedlich eingenommen, weshalb dort kaum Kirchen in eine Moschee umgewandelt wurden. Wenn eine Stadt jedoch Widerstand leistete und letztendlich mit Gewalt eingenommen wurde, hatte dies zur Folge, dass theoretisch geplündert und jegliches Privateigentum konfisziert werden konnte. In der Regel wurde dieser Zustand ziemlich schnell nach einigen Tagen durch einen Vertrag wieder behoben und die Bewohner erhielten ihren Besitz und ihre Freiheit wieder zurück. Auch hier gibt es seit der Frühzeit unterschiedliche Herangehensweisen. Diese Praxis war aber nur für Städte relevant und nicht für ländliche Gebiete, dort wurden die Kirchen auch nach kriegerischen Auseinandersetzungen nicht angetastet. Auch das Verbot neue Kirchen zu errichten, galt nur für Städte mit muslimischer Mehrheit (auch hier gab es aber Ausnahmen) und nicht für ländliche Gebiete oder Dörfer.
Interessanterweise wurde die Frage, ob Konstantinopel mit Gewalt oder friedlich eingenommen wurde, zu Beginn des 16. Jahrhunderts wieder plötzlich relevant. Die Bevölkerung war rasant gewachsen; Christen, Juden und Muslime aus unterschiedlichsten Gebieten kamen nach Istanbul, so dass wieder neue Aushandlungsprozesse um städtische Räume und Privilegien entstanden sind. Obwohl Konstantinopel ganz klar kriegerisch eingenommen wurde, erteilte die oberste religiöse und rechtliche Instanz Şeyhülislam Ebussuud Efendi eine Fatwa, in der er die friedliche Eroberung Konstantinopels festlegte, um den Schutz der vorhandenen Kirchen und Synagogen dauerhaft rechtlich zu fixieren. Während der Belagerung Konstantinopels, so Ebussuud Efendi, hätten einige christliche und jüdische Würdenträger mit dem Sultan einen Vertrag zum Schutz der Kirchen und Synagogen vereinbart und die Stadt friedlich übergeben, weshalb die meisten Kirchen verschont geblieben seien. Dazu gäbe es dokumentierte Aussagen von zwei Zeitzeugen, die im Alter von 110 und 130 diese Episode bezeugt hätten. Hier verwendet Ebussuud also einen Rechtskniff (Ḥīla), um Spekulationen über christliche Besitztümer rechtlich zu unterbinden. Auch später gab es interessante Diskussionen zu diesen Themen.
In diesem Rahmen wurde die größte Kirche Konstantinopels, die Hagia Sophia, nach der Eroberung in eine Moschee umgewandelt. In den darauffolgenden Jahren wurden weitere acht Kirchen in Istanbul unter der Herrschaft von Sultan Mehmed II. in Moscheen oder Hochschulen (Medresen) umfunktioniert. Viele Christen hatten Konstantinopel während und nach der Belagerung verlassen, weshalb die nicht mehr genutzten Kirchengebäuden als Staatseigentum übernommen und umfunktioniert wurden. Alle anderen Kirchen (etwa 40) wurden den Kirchengemeinden wieder zurückgegeben und die Glaubenspraxis, so wie es in den allermeisten muslimischen Gebieten seit Jahrhunderten praktiziert wurde, erlaubt. Das war das geltende Recht damals und muss deshalb auch entsprechend des historischen Kontextes gelesen werden und nicht ahistorisch als die für alle Zeiten gültige „islamische“ Position. Andere Kontexte erfordern andere Antworten. Sultan Mehmed II hätte sich auch anders entscheiden und die Hagia Sophia christlich belassen können, auch das wäre nach dem islamischen Recht in Ordnung. Aber er hat sich gemäß der islamrechtlichen Konvention seiner Zeit orientiert und sich so entschieden, was nach dem klassischen hanafitischen Recht vollkommen legitim war und auf Gelehrtenmeinungen aus der Frühzeit zurückgeht. Fatihs Entscheidung hatte aber auch andere Gründe, worauf ich in einem weiteren Artikel eingehen werde. Diese Praxis führte jedoch nicht dazu, dass die nichtmuslimische Bevölkerung unter der osmanischen Herrschaft allmählich verschwand oder schlechter gelebt hat. Die christliche Bevölkerung, die Konstantinopel während und nach der Belagerung verlassen hatte, kehrte zum größten Teil wieder zurück. Istanbul war nach der Eroberung durch Sultan Mehmed II und der Moscheewerdung Hagia Sophias kosmopolitischer und religiös vielfältiger als je zuvor. In nur 100 Jahren nach der Eroberung verdreifachte sich die christliche Bevölkerung und Istanbul wurde zu einer Weltstadt mit Menschen aus allen Weltgegenden.
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