Hagia Sophia (Teil 2): Der religiöse Pluralismus im Osmanischen Reich nach 1453

Sultan Mehmed II. und Patriarch Gennadious II.

Das obige Bild ist ein zeitgenössisches Mosaik, welches sich am Eingang des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel im istanbuler Stadtteil Fener befindet. Es zeigt auf der linken Seite Sultan Mehmed II, den Eroberer (1432-81), der nach der Eroberung Istanbuls 1453 eine Schriftrolle mit der Aufschrift Ἔσο Πατριάρχης ἔχων πάντα τὰ προνόμια τῶν πρὸ ἐσοῦ (Sei Patriarch und genieße alle Privilegien wie deine Vorgänger)“ an den orthodoxen Patriarchen Gennadious II. (1400-1473) überreicht. Dieses Mosaik wurde Ende der 1980er Jahre im Rahmen der Renovierungsarbeiten im Hauptgebäude des Patriarchats von einem griechischen Künstler im  Auftrag der Kirche angefertigt. Damit beruft sich das Ökumenische Patriarchat in Istanbul auf eine lange Tradition der Allianz zwischen den osmanischen Herrschern und der orthodoxen Kirche. Es weist auf den Schutz hin, den das Patriarchat von Konstantinopel seitens der Osmanen, trotz der vielen Probleme, Krisen und Konflikte, dauerhaft über Jahrhunderte genossen hat. Gennadious II war der erste orthodoxe Patriarch, der nach der Eroberung Konstantinopels durch Sultan Mehmed II eingesetzt wurde. Der letzte Patriarch hatte im Dezember 1452 (also sechs Monate vor dem Fall Konstantinopels) aus Protest gegen die Abhaltung des Gottesdienstes nach katholischem Ritus in der Hagia Sophia-Kirche abgedankt. Seit dem hatte die orthodoxe Kirche keinen Patriarchen. Sultan Mehmed setzte jedoch auf Kontinuität: Im Januar 1454, einige Monate nach der Einnahme der Stadt, setzte er Gennadios als neuen Patriarchen ein, erteilte ihm bestimmte Privilegien, versprach den Christen im Land und in der Stadt Religionsfreiheit zu und lud damit die Christen, die die Stadt während und nach dem Krieg verlassen haben wieder nach Istanbul ein. Direkt nach dem Krieg und der Umwandlung der Hagia Sophia Kirche in eine Moschee suchte der Sultan den Ausgleich mit seinen christlichen Bürgern und machte deutlich, dass er nicht nur der Herrscher der Muslime sei, sondern des gesamten Volkes.

Sultan Mehmed II – der neue römische Kaiser

Als die Osmanen Konstantinopel einnahmen, war die Stadt nur ein Schatten ihrer selbst und die Hagia Sophia konnte sich nach der Zerstörung und Plünderung durch die Katholiken nach dem vierten Kreuzzug 1204 nicht mehr erholen und glich einer Ruine. Im Jahre 2001 hat sich Papst Johannes Paul II bei der griechisch-orthodoxen Kirche für den Vierten Kreuzzug entschuldigt und sagte, dass es die Katholiken mit Reue erfülle, was damals der Hagia Sophia widerfahren ist. Die osmanische Eroberung Konstantinopels verschaffte der Stadt und der Hagia Sophia-Kirche eine neue Blüte. Sultan Mehmed II. war ein Bewunderer der byzantinischen Baukunst und respektierte die christliche Religion. Als er nach der Eroberung an der Hagia Sophia-Kirche ankam, stieg er von seinem Pferd und ging demütig in das Gotteshaus. Nachdem er dort ein Gebet verrichtete, bestieg er die goldene Kuppel der Kirche, und sah in tiefer Trauer wie die Stadt seiner Träume und Teile der Hagia Sophia in Trümmern lagen. Der byzantinische Historiker Kritobulos von Imbros erzählte sogar, dass ihm vor Trauer die Tränen geflossen seien. Die Belagerung hinterließ deutliche Spuren, insgesamt sind schätzungsweise auf beiden Seiten jeweils drei bis vier tausend Menschen gestorben. Nach dem damals geltenden Kriegsrecht durfte die Stadt drei Tage geplündert und die Widerstand Leistenden als Kriegsgefangene genommen werden. Als Sultan Mehmed II diesen chaotischen Zustand sah  stoppte er sofort die Plünderung der Stadt, sagte den Christen, die sich in der Hagia Sophia versammelten, Schutz, Sicherheit und Freiheit zu, ordnete den Schutz der Zivilbevölkerung an und rief eine Generalamnestie aus. Bis zum Abend kehrte wieder Ordnung ein, so dass mit Vertragsverhandlungen begonnen werden konnte. Von nun an sollte nicht zerstört, sondern wieder aufgebaut werden, so der Sultan. Einer seiner größten Träume war, die Stadt Konstantinopel zur Hauptstadt seines Weltreiches zu machen und die Hagia Sophia sollte die Hauptmoschee sein.

Die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee sollte deshalb nicht nur bloß als ein Akt des Triumphes des Islams über das Christentum gelesen werden. Die Hagia Sophia wurde von Kaiser Konstantin als seine Krönungskirche gebaut und war unmittelbar mit dem Kaiser verbunden. Sultan Mehmed II. übernahm, als er die Stadt einnahm, offiziell den Titel Kayser-i rūm an, also Römischer Kaiser und reihte sich in die lange Reihe der Kaiser des Römischen Reiches. Auch hier setzte er auf Kontinuität. Damit wollte Sultan Mehmed II u.a. den einheimischen Byzantinern die Botschaft geben, dass er kein Fremder sei, sondern auch ihr Kaiser. Als neuer römischer Kaiser übernahm er die Kaiserkirche Hagia Sophia und machte sie zur kaiserlichen Moschee. Die Übernahme der Hagia Sophia sah er als sein althergebrachtes Recht- sowie als der absolute Ausdruck imperialer Herrschaft an. Sein größtes Ziel war fortan, der Stadt zu einer Blüte zu verhelfen.

Der kosmopolitische Herrscher

Die Eroberung Konstantinopels war ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung. Sie gilt nach einigen Historikern als eine Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit. Als Sultan Mehmed dies vollbrachte, war er gerade einmal 21 Jahre alt. Wer war dieser junge Sultan? Biographen erzählen, dass Sultan Mehmed II. schon seit seiner Jugend das Ziel hatte die Stadt Konstantinopel zu erobern und sie zur universalen Hauptstadt seines Imperiums zu machen und damit die Prophezeiung des Propheten erfüllen, wonach die Stadt Qustantiniyya von den Muslimen erobert werden soll. Die Stadt wurde seit dem 7. Jahrhundert deshalb dutzende Male erfolglos von Muslimen belagert.

Er las die Biographien und Feldzüge von Caesar,  Alexander dem Großen oder Salahaddin al-Ayyubi, sprach neben arabisch, persisch und türkisch auch fließend italienisch, latein und griechisch, förderte Wissenschaften, unterhielt sich mit Gelehrten, Künstlern und Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Kulturen, schrieb Gedichte unter seinem Dichternamen Avni. Mit seinem Lehrer Molla Husraw studierte er aristotelische Logik und das islamische Recht, mit dem venezianischen Künstler Gentile Bellini diskutierte er über Kunst und Kultur und ließ ein Portrait von sich anfertigen, mit dem Wissenschaftler Ali Kuşcu diskutierte er über Astronomie und Mathematik und interessierte sich für philosophische Fragen. Er kannte die „westliche“ Welt genauso wie die „östliche“ und konnte als Mittler zwischen den beiden Welten betrachtet werden. Nicht umsonst wurde die erste Brücke über dem Bosporus, welche Asien und Europa miteinander verbindet, nach ihm benannt. Viele Türken interessieren sich für diese Seiten Fatihs jedoch kaum und betonen sehr stark seine Eigenschaft als Eroberer, weshalb er als interkulturelle Inspirationsfigur bislang kaum in Erwägung gezogen wurde.

Er bezeichnete sich selbst als römischer Kaiser (Kayser-i Rum) und stellte sich damit ganz bewusst in die Kontinuität des Römischen Reiches. Ferner beanspruchte er die persischen Herrschertitel Padişah und Şahinşah, den türkischen Titel des Hakan, den arabischen Titel Sultan, sowie den islamischen Kalifentitel und zeigte seinen universalen Herrschaftsanspruch. Ayasofya sollte als Symbol dieses universalen Anspruchs verstanden werden. Sie war die erste große Moschee in Istanbul und von dort aus hat sich der Stadtkern Istanbuls entwickelt: der erste Markt, die erste Stiftung, die erste Medrese, die erste Mahalle (Verwaltungseinheit). Architektonisch bildete die Ayasofya für die meisten Moscheen im Osmanischen Reich ein Vorbild, wonach sich die Moscheearchitektur jahrhundertelang orientierte.

Von Konstantinopel zu Istanbul: Die kosmopolitische Weltstadt Fatihs

Sultan Mehmed II setzte wie seine Vorgänger auf Kontinuität und sah sich als Bewahrer und Hüter des universalen Erbes der Menschheit. Dementsprechend sollten in der neuen Weltstadt Qustantiniyya alle Religionen, Ethnien und Kulturen aus dem gesamten Reich vertreten sein, eine kosmopolitische Stadt musste es sein. Vor der Eroberung hatte Konstantinopel nur noch etwa 40-50 000 Bewohner, von denen wiederum etwa die Hälfte während und nach dem Krieg die Stadt verlassen hat. Innerhalb von 25 Jahren nach dem Krieg erreichte die Stadt eine Bevölkerungszahl von 80-100 000 und verdoppelte sich somit. Was ist passiert?

Fatih  lud vor allem die alten Einwohner der Stadt ein wieder zurückzukehren und versprach Ihnen weitgehende Freiheiten, Befreiung von Steuern und wirtschaftliche Unterstützung. Er lud orthodoxe, italienische, armenische Christen sowie Juden aus deutschen und italienischen Gebieten und auch Muslime vor allem aus anatolischen Städten ein nach Istanbul zu kommen. In diesem Zusammenhang kommen wir auf das anfangs gezeigte Mosaik zurück. Um die orthodoxen Christen von einer Rückkehr zu überzeugen wurde der beliebte Theologe Gennadious II zum neuen Patriarchen ernannt und somit das aufgelöste Patriarchat in Istanbul wieder belebt. Damit wollte er zeigen, dass das Zentrum der orthodoxen Kirche weiterhin in Istanbul sein wird und die Kirche genauso wie unter der kaiserlichen Macht ihre Privilegien erhält und alle Christen somit in Istanbul willkommen seien. Mit diesem Ziel wurden auch das armenische Patriarchat und ein Oberrabbinat in Istanbul installiert, um Gläubige aller Religionen nach Istanbul zu holen. Durch die muslimische Herrschaft wurde das christlich-byzantinische Element der Stadt also nicht ausgelöscht, sondern in verschiedenen Formen beibehalten. Es ist typisch für die osmanische, aber auch für klassisch-muslimische Herrschaftskulturen der Vormoderne insgesamt, dass sie das Erbe der vorangehenden Kulturen nicht komplett verwerfen, sondern es weitestgehend übernehmen, würdigen und daraus eine neue Synthese mit den islamischen Symbolen und Praktiken entwickeln. Das beste Beispiel ist der Name der Hagia Sophia –Kirche, die nun mit der Umwandlung Ayasofya heißen sollte. Der Name wurde also beibehalten und lediglich phonetisch der türkischen Aussprache angepasst. Auch die heutzutage vieldiskutierten christlich-byzantinischen Mosaiken wurden nicht sofort entfernt oder zugedeckt, sondern höchstwahrscheinlich erst im Laufe der Jahrhunderte, wie wir aus Quellen entnehmen können. Auch der Name der Stadt blieb vorerst bestehen. Im arabischen und türkischen wurde die Stadt vorher Qustantiniyya genannt, was nach der Eroberung als offizielle Bezeichnung beibehalten wurde und nicht wie oft erwähnt in Islambol oder Islambul umbenannt. Auch die heutige türkische Bezeichnung Istanbul hat griechische Wurzel. Diese Kontinuität sieht man auch in den Städtenamen in Anatolien: Fast alle Namen haben ähnlich wie Ayasofya byzantinischen Ursprung und wurden phonetisch angepasst.

  • Adrianople – Edirne; Kaisereia (Caesarea) – Kayseri; Nicaea – Iznik; Smyrna – Izmir; Trebizond/Trapezund – Trabzon; Chalcedon – Kadiköy; Ancyra/Angora – Ankara; Brusa – Bursa; Iconium – Konya; Samosata – Samsun, usw.

Das Stadtbild in Istanbul hatte sich nach der Eroberung stark verändert, aus einer christlichen Stadt wurde nun die Hauptstadt der islamischen Welt, aber dennoch bildete die osmanische Herrschaft keinen radikalen Bruch mit der byzantinischen Vergangenheit, sondern kann als eine kreative Kontinuität bezeichnet werden, in der viele Elemente der Hofkultur, des Rechts oder der Institutionen unter muslimischer Herrschaft fortgeführt wurden.

Religiöser Pluralismus in Istanbul nach 1453

Wie plural kosmopolitisch war die Hauptstadt Fatihs nach der Eroberung? In der ersten Volkszählung im Jahre 1477 ergaben sich folgende Zahlen für Istanbul und Galata:

Von 16354 Haushalten waren:

9486 muslimisch, 3743  griechisch-orthodox (Rum), 1647 jüdisch, 848 armenisch, 332 europäisch- katholisch (frenk), 267 katholisch (aus Kaffa) 31 andere.

Das bedeutet, dass im Jahre 1477 etwa 24 Jahre nach der Eroberung Konstantinopels die Stadt 58 % muslimisch und 42 % nichtmuslimisch besiedelt war. Wenn man pro Haushalt mit 5 Personen hochrechnet und die Kaufleute, Hofbedienstete, Sklaven und Studenten, die nicht mitgezählt wurden, einbezieht, ergibt es eine Bevölkerungsanzahl von etwa 100 000. Das sind Verhältnisse (42 % nichtmuslimischer Bevölkerungsanteil), die in Europa in christlich-geprägten Gesellschaften kaum vorstellbar waren und zu keiner Zeit existiert haben, aber in muslimischen Gesellschaften in der Vormoderne normal waren. Im Vergleich zum byzantinischen Konstantinopel bildet diese Entwicklung einen enormen Fortschritt an Zivilisierungsgrad und Universalisierung. Stellen sie sich einmal vor 42 % von Istanbul wäre heute nichtmuslimisch, das wären bei 15 Millionen eine Zahl von mehr als sechs Millionen. Tatsächlich machen aber die Nichtmuslime in Istanbul weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Wir können die Verhältnisse damals kritisieren, aber in Sachen interreligiöser Kompetenz und gegenseitiger Vertrautheit waren uns die Menschen damals weit voraus. Im Jahre 1535, also etwa fast 80 Jahre nach der Eroberung, hat sich die Bevölkerungsanzahl von Istanbul auf etwa 80 000 Haushalte verfünffacht, so dass man von einer Bevölkerung von ungefähr 400 000 ausgehen kann. Das Interessante ist, dass sich die Bevölkerung gleichmäßig vermehrt hat und man weiterhin einen nichtmuslimischen Anteil von etwa 40 % aufweisen konnte. Im 16. Jahrhundert waren es vor allem Juden, die aus Spanien, Portugal oder Italien vertrieben wurden, die nach Istanbul kamen und von dort aus in andere osmanische Städte wie Edirne, Bursa, Saloniki, Safed oder Izmir reisten. Etwa 100 Jahre später also hat sich der Traum von Sultan Mehmed II. verwirklicht und Qustantiniyya wurde zu einer kosmopolitischen Weltstadt mit Menschen aus allen Weltgegenden. Das galt jedoch nicht nur für die Hauptstadt, sondern für das gesamte Reich und dabei stand es in einer langen Tradition des religiösen Pluralismus in der islamischen Welt. Es war eines der kosmopolitischsten Reiche der Weltgeschichte. Zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert betrug die Anzahl der Nichtmuslime (darunter verschiedene christliche und jüdische Denominationen) in Istanbul immer konstant zwischen 40 und 45%, was auch den Durchschnitt im gesamten Reich repräsentierte. Die Volkszählung aus dem Jahr 1844 ergibt einen muslimischen Bevölkerungsanteil von etwa 58% und einen nichtmuslimischen Anteil von 42%. Im Jahr 1885 gab es sogar eine nichtmuslimische Mehrheit von 56 %. In Saloniki des Jahres 1881 betrug der muslimische Anteil 28%, während die Angehörigen der verschiedenen christlichen Denominationen etwa 38% und die Juden etwa 33% der Gesamtbevölkerung ausmachten. Im gleichen Jahr war die Verteilung in Izmit (Anatolien) 48% muslimisch und 52% nichtmuslimisch. Im gesamten Reich gab es einen nichtmuslimischen und heterogenen Bevölkerungsanteil zwischen etwa 20–40% in Zentralanatolien und in den arabischen Regionen sowie bis zu 70–80% in verschiedenen südosteuropäischen Gebieten, und das durchgehend seit dem 15. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Erst durch die Ereignisse während und nach dem Ersten Weltkrieg ging dieser Pluralismus leider zu Ende, der Nationalismus auf allen Seiten hat schreckliche Folgen hinterlassen. Es wäre jedoch verfehlt, diesen vormodernen Pluralismus mit den heutigen Vorstellungen von Religionsfreiheit gleichzusetzen, da die Zeitgenossen von einer klaren Hierarchie ausgingen. Nichtmuslime hatten gegenüber den Muslimen einen niedrigeren, aber dafür rechtlich gesehen dauerhaft gesicherten Status. Ihre Zugehörigkeit zur Gesamtgesellschaft wurde nie in Frage gestellt, sofern sie selbst die Hierarchien nicht in Frage stellten. Sie wurden teilweise marginalisiert, aber dies führte nicht zu einer Ausgrenzung oder zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft. In diesem Spannungsfeld muss der Pluralismus in muslimischen Gesellschaften und dementsprechend auch im Osmanischen Reich betrachtet werden. In einem weiteren Artikel werde ich die komplexen Beziehungsgeflechte zwischen Muslimen und Nichtmuslimen im Osmanischen Reich etwas näher ausführen.

Neue Chance für den christlich-muslimischen Dialog

Inennraum der Ayasofya um das Jahr 1920

Historisch gesehen leitete die Moscheewerdung Ayasofyas 1453 eine nie zuvor dagewesene Phase des religiösen Pluralismus in Istanbul ein. Das osmanische Reich war im Vergleich viel toleranter gegenüber Nichtmuslimen als der säkulare türkische Staat, dennoch lässt sich dieser Pluralismus ansatzweise heute noch erkennen. Es gibt derzeit etwa 70 aktive orthodoxe Kirchen in Istanbul, sowie weitere 50 katholische, protestantische, armenische oder aramäische Kirchengemeinden. Letztes Jahr fand die Grundsteinlegung einer syrisch-orthodoxen Kirche in Istanbul statt. Viele Stiftungsgüter und Besitztümer der Kirchen, die in den 30er Jahren von Seiten der türkischen Republik beschlagnahmt wurden, wurden ab 2008 den Kirchen wieder zurückgegeben. Gegenüber religiösen Minderheiten scheint es unter der AKP-Regierung einen deutlichen Aufschwung zugeben. Deshalb wäre es falsch den Schritt der Umwandlung als eine Provokation gegenüber den Christen zu interpretieren. Die Moscheewerdung Ayasofyas kann für den christlich-muslimischen Dialog vielleicht wieder neue Impulse freisetzen, wie Felix Körner es treffend in einem Interview formuliert hat. Der orthodoxe Patriarch Bartholomäus I., der in dem Gebäude residiert, wo sich das Mosaik mit Sultan Mehmed II und dem Patriarchen Gennadious befindet, hat seine Bedenken geäußert, dass dieser Schritt zu Konfrontation und Konflikten zwischen Christen und Muslimen führen könnte. Deshalb müssen die Muslime in der Türkei und allen voran die Politik jetzt deutlicher auf die christlichen Minderheiten zugehen und ihnen zusichern, dass dieser Schritt nicht gegen die Christenheit gerichtet ist und dass Christen ein integraler, wichtiger Bestandteil der türkischen Gesellschaft sind. Genauso wie Sultan Mehmed II direkt nach der Übernahme der Hagia Sophia um Ausgleich bemüht war und den christlichen Würdenträgern weitreichende Privilegien erteilt hat, muss sich auch die türkische Regierung um Ausgleich bemühen, um das gute Verhältnis zu den christlichen Minderheiten im Land nicht zu gefährden. Wichtig ist, dass mit dem historischen Erbe verantwortungsvoll umgegangen und nicht als politisches Propagandamittel instrumentalisiert wird. Ansonsten wäre dieser Schritt purer Populismus, den wirklich niemand braucht. Die meisten Muslime in der Türkei, aber auch weltweit haben sich über die etwas überraschende Nachricht der Moscheewerdung Ayasofyas gefreut, nicht weil sie etwas gegen Christen haben oder die politische Instrumentalisierung gutheißen, sondern weil sie sich einfach über die Moscheewerdung eines für sie bedeutsamen Gebäudes freuen.

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