
Im letzten Artikel hatte ich erwähnt, dass Istanbul seit dem 15. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg durchgehend konstant einen nichtmuslimischen Bevölkerungsanteil von 40-45 % hatte. Das war auch der Schnitt im gesamten Osmanischen Reich. Dabei lebten Muslime und Nichtmuslime nicht etwa in Parallelwelten nebeneinander, sondern sehr häufig im gleichen Viertel, wodurch eine große Vertrautheit zwischen den Angehörigen verschiedener Religionen entstand. Wie sah dieser Alltag konkret aus? Dazu wollen wir uns die Gerichtsprotokolle der Schariagerichte uns näher anschauen. Die Scharia- oder Kadigerichtsprotokolle (şer’iyye/kadı sicilleri) gehören zu den wichtigsten Quellen für die Sozialgeschichte der Osmanischen Gesellschaft. Das Osmanische Reich unterscheidet sich von anderen islamischen Reichen durch das reiche Archivmaterial und die gründliche Dokumentation der Gerichtsprozesse, sodass es Unmengen an Quellen für die konkrete Rechtspraxis gibt. Sie wurden seit dem 15. und bis ins 20. Jahrhundert fast an jedem Gericht geführt und bieten Einblicke in die sozialen, ökonomischen und rechtlichen Beziehungen sowohl in Istanbul und in Anatolien als auch in den osteuropäischen oder arabischen Regionen des Reiches.[1] Diese Dokumente liefern auch Einblicke in das Zusammenleben von Muslimen und Christen. Das Kadigericht war die zentrale gerichtliche Instanz für alle Bürger, und damit auch für Nichtmuslime. Für Nichtmuslime gab es aber fast in jeder Stadt die Möglichkeit Personenstandsangelegenheiten – wie Ehe, Scheidung und Erbangelegenheiten – direkt in kirchlichen bzw. rabbinischen Gerichten ohne Rekurs auf die Kadigerichte zu regeln. Bei Kriminalfällen, interreligiösen Angelegenheiten und Sicherheitsaspekten mussten sie jedoch zum Kadigericht. Das Studium der Gerichtsdokumente zeigt, dass Nichtmuslime in allen möglichen Fällen die muslimischen Kadigerichte aufsuchten, um ihre Streitigkeiten zu klären; auch in Fällen, in denen sie auch die kirchlichen bzw. rabbinischen Autoritäten hätten aufsuchen können, was auf ein hohes Maß von Vertrauen hindeutet und eine enge Vertrautheit mit den Mechanismen der Rechtsprozesse voraussetzt.
Juden und Christen lebten in einer untergeordneten, aber doch anerkannten und geschützten Nische innerhalb der Hierarchie der islamischen Gesellschaftsordnung. Die religiöse Zugehörigkeit war dabei nicht die einzige Orientierung. Wichtig waren auch der Beruf, der soziale Status oder die persönlichen Netzwerke, sodass unabhängig von der Religion Muslime, Juden und Christen in allen Berufsgruppen vorzufinden waren. Nichtmuslime waren bei vollständiger Bewegungsfreiheit vollständig in das Wirtschaftsleben integriert und es gab keine beruflichen Einschränkungen, sodass es sowohl im Handel als auch im Handwerk und in anderen Gewerben zu einer Durchmischung kam, wobei Muslime und Nichtmuslime auf gleicher Ebene agierten. In Handelsgeschäften gingen Nichtmuslime oft Partnerschaften mit Muslimen ein.
Kaufgeschäfte zwischen Juden und Muslimen
In einem Protokoll des Ahi-Celebi-Gerichts vom 15. Juli 1653 (19.8.1063)[2] aus dem Istanbuler Stadtteil Eminönü erklärt der muslimische Kaufmann Mehmed Beşe b. el-Hac, dass er einer jüdischen Frau namens Nazalta bt. Ilya ihre Schulden erlässt und ab jenem Zeitpunkt auf seine Vermögensrechte verzichtet. Hintergrund ist ein Kaufgeschäft zwischen den beiden, in dem die Frau Seidenfaden im Wert von 996 Kuruş (eine osmanische Währung) erworben hat. Mehmed Beşe erklärt nicht nur, dass er auf das Geld verzichtet und Nazalta von den Schulden befreit, sondern auch, dass er ebenso auf die Zahlung ihres Ehemanns Isak v. Yako verzichtet, der laut dem Protokoll die Bürgschaft für die Schulden übernommen hatte. Denn wenn die Schulden des Schuldners erlassen werden, wird auch automatisch die Schuld des Bürgen erlassen. Mit diesem Schuldenerlass, der sowohl im Gerichtsprotokoll dokumentiert als auch gewohnheitsgemäß den Vertragsparteien ausgehändigt wurde, garantiert der Kaufmann am Ende des Schreibens, dass er auf die 996 Kuruş verzichtet und somit beide Ehepartner von diesen Schulden befreit. Warum der Gläubiger auf die Bezahlung verzichtet, wird hier nicht erwähnt. Wahrscheinlich war der Schuldner nicht in der Lage, den Preis zu bezahlen, und die Summe war nicht sehr hoch, sodass sie für den Kaufmann verzichtbar war. Man kann annehmen, dass Nazalta die Beurkundung veranlasst hat, um sicherzugehen, dass der Kaufmann sein Versprechen auch tatsächlich hält. Notarielle Beurkundungen von Kauf- und Schuldverträgen, ob nun zwischen Angehörigen derselben Religion oder verschiedener Religionen, gehören zu den häufigsten Formen der Gerichtsprotokolle. Für die Gerichte war es dabei gleichgültig, welcher Religion die Parteien angehörten, es gab hierbei also keinerlei Unterschiede.
Aus demselben Protokollbuch soll ein weiteres Beispiel erwähnt werden. Vier Tage vor dem oben genannten Schuldenerlass vom 11. Juli 1653 (15.8.1063) gab es einen Kaufvertrag zwischen einem Juden namens Yorgi v. Manol als Verkäufer und einem Muslim namens el-Hac Abdurrahman b. Ali als Käufer.[3] Yorgi v. Manol, der ein Schiff besitzt, verkauft einen Anteil von einem Viertel seines Schiffes für 35.000 Akça an den Käufer. Somit wurden die beiden Geschäftspartner. Das Geld wurde bar bezahlt und der Kauf somit abgeschlossen. Die notarielle Beurkundung des Kaufvertrages wurde vom Käufer veranlasst. In beiden hier kurz skizzierten Fällen handelte es sich um Kaufgeschäfte zwischen Juden und Muslimen, die genauso häufig vorkamen wie zwischen Christen und Muslimen, Christen und Christen sowie Juden und Christen. Besonders im Handel, Gewerbe und Handwerk sowie in verschiedenen anderen Berufen war die Zusammenarbeit und Vertrautheit zwischen den Angehörigen verschiedener Religionen stark.
Die direkte Interaktion zwischen Juden, Christen und Muslimen in alltäglichen wirtschaftlichen Unternehmungen sowie auch im nachbarschaftlichen Umgang führte dazu, dass Muslime und Nichtmuslime ihre Handels- und Kaufgeschäfte sowie ihre Streitigkeiten und notariellen Beurkundungen gemeinsam vor dem Kadigericht erledigten, wozu wir unzählige Gerichtsprotokolle haben. Wie aus diesen Protokollen ersichtlich wird, war es ganz normal, dass Muslime ihre Häuser oder Grundstücke an Juden oder Christen oder umgekehrt Nichtmuslime ihre Immobilien an Muslime verkauften oder vermieteten, sie sich gegenseitig Kredit gaben oder Geschäftspartner waren.
Es kam auch dazu, dass Juden und Christen es häufig vorzogen, religionsinterne Kaufverträge sowie die Schlichtung von Streitigkeiten vor muslimischen Gerichten zu vollziehen, obwohl sie auch ihre eigenen Gerichte hätten aufsuchen können. Seitens der orthodoxen Bischöfe oder der rabbinischen Autoritäten gab es immer wieder Warnungen, nicht vor die Gerichte der „Ungläubigen“ zu ziehen. Häufig wurden für diejenigen, die es trotzdem taten, Strafen angedroht. Bei Streitigkeiten zwischen Christen solle man nicht zu den „Ungläubigen“ gehen, sondern den Konflikt unter sich lösen, so hieß es. Sowohl die muslimischen als auch die christlichen und jüdischen Gelehrten sahen eine zu starke Durchmischung der Gesellschaft als eine reale „Gefahr“ an, wovor sie immer wieder ihre Angehörigen warnten. Deshalb wurde z.B. die gesonderte Kleiderordnung für Juden und Christen nicht nur von muslimischen, sondern auch von jüdischen und christlichen Autoritäten immer wieder gefordert, um sich deutlicher von den Muslimen zu unterscheiden. Im Alltag der Menschen war jedoch das Kooperative und nicht das Trennende stets vorherrschend.
Verkauf von Häusern und Grundstücken
Aus diesen Vertragsunterlagen geht hervor, dass es im Osmanischen Reich zu allen Zeiten Kaufgeschäfte unter den Anhängern verschiedener Religionen gab, wobei sowohl Muslime zum Beispiel ihre Häuser oder Grundstücke an Juden bzw. Christen oder umgekehrt Nichtmuslime ihre Immobilien an Muslime verkauften. Ein notarieller Eintrag vom 17. Februar 1764 (14. Šaʿbān 1177)[4] aus dem Dorf Dolayoba, das zum Istanbuler Distrikt Üsküdar gehört, zeigt, dass ein Muslim namens Seyyid Aḥmed b. es-Seyyid Abdi sein Grundstück an einen christlichen Metzger namens Todoraki v. Petro verkauft hat und der entsprechende Kaufvertrag von muslimischen wie christlichen Zeugen bezeugt wurde. In dem Vertrag werden die angrenzenden Grundstücke genannt, die allesamt muslimische Eigentümer haben. Hieraus geht hervor, dass es selbstverständlich war, dass in einer muslimischen Nachbarschaft Grundstücke an Christen verkauft werden konnten.
Ein ähnliches Beispiel ist in einem Kaufvertrag vom März 1633 (Ramadan 1042) aus dem Istanbuler Stadtteil Hasköy zu sehen.[5] Eine muslimische Frau namens Cemile bt. Şaban verkauft ihr Haus mit Grundstück im Viertel Piri Paşa an einen Juden namens Yahuda v. Avraham für 30.000 Akça (eine osmanische Währung). Sie gibt eine detaillierte Beschreibung über die einzelnen Zimmer, die Grundstücksabmessungen sowie die Gartenanlage samt Bäumen und Wasserbrunnen. Sie erhält das Geld in bar, und mit diesem notariellen Kaufvertrag wird das Haus an Yahuda übergeben. Auch hier folgt wie üblich eine Lagebeschreibung mit Erwähnung der benachbarten Grundstücke. Das Haus befindet sich in einer muslimischen Nachbarschaft. In den angrenzenden drei Grundstücken wohnen Muslime, vorne verläuft die öffentliche Straße. Auch hier sehen wir also, dass Häuser in einem von Muslimen bewohnten Viertel an Juden verkauft werden konnten, sodass es häufig zu einer Durchmischung kam. Direkt im Anschluss an den genannten Kaufvertrag gibt es auf der nächsten Seite einen weiteren notariellen Eintrag.[6] Dort beantragen zwei zum Islam konvertierte Söhne des Juden Avraham die Teilung des Hauses und des Grundstücks, die sie von ihrem Vater als Geschenk bekommen haben. Auch hier werden die angrenzenden Grundstücke genannt. Das frühere Grundstück Avrahams, das nun seinen muslimischen Söhnen gehört, grenzt an der einen Seite an das Grundstück von Ganizade Mehmed Efendi (ein muslimischer Bewohner), auf einer anderen Seite an das einen Juden und auf einer weiteren Seite an einen Friedhof für Nichtmuslime.
Diese und unzählige andere Beispiele zeigen, dass Muslime, Juden und Christen in denselben Vierteln als Nachbarn zusammengelebt haben. „It is well documented that Istanbuli families of all three religions lived next to each other in mixed neighborhoods during the sixteenth and seventeenth centuries.“[7] Das bedeutet nicht, dass es keine „jüdischen“ oder „christlichen“ Viertel gab, genauso wie es auch muslimische Viertel gab. Aber dabei handelte es sich um eine natürliche soziale Entwicklung und nicht, wie bei den Ghettos im christlichen Europa, um eine gesetzlich erzwungene Einengung. Juden, Christen und Muslime waren in den meisten Gebieten im Osmanischen Reich keine Fremden. Sie lebten jahrhundertelang zusammen, wodurch eine gemeinsame Kultur und eine große gegenseitige Vertrautheit entstanden ist, was ein zwar nicht immer harmonisches, aber doch insgesamt kooperatives Zusammenleben ermöglichte. Das gemeinsame Alltagsleben zwischen Muslimen und Nichtmuslimen wurde nicht ausschließlich durch die Vorschriften des islamischen Rechts bestimmt, sondern vor allem von lokalen Traditionen sowie familiären, nachbarschaftlichen und geschäftlichen Beziehungen. Auch wenn die osmanische Gesellschaft weit von der heutigen Vorstellung von Gleichberechtigung entfernt war, so war das Verhältnis der religiösen Gemeinschaften nicht primär durch Feindschaft geprägt, sondern von der gegenseitigen Vertrautheit und Solidarität.
[1] Das Istanbuler Zentrum für Islamstudien (ISAM) hat seit 2008 mittlerweile 100 ausgewählte Bände aus unterschiedlichen Jahrhunderten veröffentlicht und online zur Verfügung gestellt: http://www.kadisicilleri.org.
[2] http://www.kadisicilleri.org/goster.php?blm=ahi001&bsm=ahi001b084 (letzter Aufruf am 10.08.2020)
[3] http://www.kadisicilleri.org/goster.php?blm=ahi001&bsm=ahi001b084 und http://www.kadisicilleri.org/goster.php?blm=ahi001&bsm=ahi001b085 (letzter Aufruf am 10.8.2020)
[4] http://www.kadisicilleri.org/veri/gorselx/bsm/ada001/ada001b071.pdf (zuletzt abgerufen am 10.8.2020); Originaldokument im Anhang als Abbildung 1.
[5] http://www.kadisicilleri.org/goster.php?blm=has005&bsm=has005b096 (letzter Abruf am 11.8.2020)
[6] http://www.kadisicilleri.org/goster.php?blm=has005&bsm=has005b096 (letzter Abruf am 10.8.2020)
[7] Rozen, Minna, Public Space and Private Space Among the Jews of Istanbul in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Turcica, Bd. 30, 1998, S. 337.