Der Diskurs um die „Imamin“ – Dürfen Frauen vorbeten? Eine Fiqh-Perspektive!

„Der Ausgangspunkt ist, dass die Führung der Frau (Imāma) während des Gebets erlaubt ist. Jenem, der dies ohne Beweis verbieten will, soll kein Gehör geschenkt werden. Es gibt auch keinen eindeutigen Text (Naṣṣ) für denjenigen, der es verbietet. Jedes Argument gegen die Führung der Frau schließt den Mann auch ein, sodass nur der Ausgangspunkt bleibt, nämlich dass ihre Führung erlaubt ist.“[1]

 Ibn al-ʿArabi: Futūḥāt, Bd. 1, S. 447.

Ibn Arabī ist der Auffassung, dass Frauen genauso wie Männer die Gebete leiten können. Ein Verbot könne weder aus dem Koran noch aus den Hadithen entnommen werden. Es gibt also laut Ibn Arabi keinen Offenbarungsbeleg dafür, dass es verboten ist, dass Frauen vor einer Gruppe von Männern und Frauen vorbeten dürfen. Wie sieht es im traditionellen und im zeitgenössischen Fiqh aus? Es ist bekannt, dass in der mehrheitlichen Auffassung aller sunnitischen wie schiitischen Richtungen Frauen vor einer gemischten Gruppe von Männern und Frauen nicht vorbeten dürfen. Darin gibt es einen nahezu einstimmigen Konsens unter den Gelehrten. Was sind hierfür die religionsrechtlichen Belege? Stimmt es, was Ibn Arabi sagt? Wenn ja, wie kann man ein solches Verbot dennoch aufrechterhalten? Wenn nein, wie wird das Verbot begründet?

Diesbezüglich sollen einige zeitgenössische Stimmen dargestellt werden, die verschiedenen Ansätzen zuzuordnen sind und die entweder im Westen leben oder sich mit den Angelegenheiten der Muslime im Westen auseinandersetzen. Für die traditionsorientierte Richtung soll hier Zaid Shakir[2] zur Sprache kommen, für die konservative Reformschiene Yusuf al-Qaradawi[3] und der etwas traditionellere Abdullah ibn Bayyah[4] und für die liberale Richtung Khaled Abou El Fadl[5]. In diesem Beitrag sollen nicht die gesellschaftspolitischen Hintergründe und Genderfragen thematisiert werden, sondern lediglich die nüchterne, islamrechtliche Perspektive auf die Frage, ob eine Frau vor einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe das Gebet leiten darf.  

Liberale Position Khaled Abou El Fadl

In einer Fatwa[6] über die Legitimität der Leitung des Freitagsgebetes durch eine Frau sagt Khaled Abou El Fadl Folgendes: Bei der Leitung des gemeinschaftlichen Freitagsgebets und der Freitagspredigt sollte nicht das Geschlecht ausschlaggebend sein, sondern die Führungskompetenzen und das Wissen einer Person. Dementsprechend könne auch eine Frau diese Aufgabe übernehmen. Er begründet seine Ansicht wie folgt:  Es gibt keinen Koranvers, der das Vorbeten nur den Männern gestattet. Außerdem habe der Prophet selbst einer Frau erlaubt in ihrem Haus die Gebete zu leiten (gemeint ist Umm Waraqa), obwohl auch Männer im Haushalt waren. Außerdem erwähnt er die Gelehrten at-Tabari und Abu Thawr, die eine Imamin für zulässig erachtet haben. Allerdings mit der Einschränkung, dass sie nicht vor der Gemeinde steht, sondern seitlich, so dass sie zwar das Gebet leitet, aber nicht vor den Männer steht. Seit dem vierten Jahrhundert hätten aber alle anderen Gelehrten diese Option für nicht zulässig gehalten. Obwohl es fast einen weitgehenden Konsens über ein Verbot gibt, sei diese Meinung nicht gut durch Quellen belegt. Ein Verbot müsse aber gut durch Offenbarungsquellen belegt sein, damit es zwingend sein kann. Dies sei hier aber nicht der Fall, so dass ein Verbot nur aufgrund des Geschlechts nicht haltbar sei. Diese Ansicht und die Argumentation stimmen zum größten Teil mit den Ansichten anderer liberaler Denker und Institutionen überein.[7] Es gibt also drei wichtige Argumente: 1. Es gibt kein explizites Verbot in den Offenbarungsquellen, 2. Es gibt einen Hadith, in der einer Frau (Umm Waraqa) erlaubt wird in ihrem Haushalt vorzubeten, 3. Es gibt einzelne Gelehrte, die das Vorbeten von Frauen erlaubt haben.

Yusuf al-Qaradawi und die Verteidigung des Konsenses

Yusuf al-Qaradawi hat dieses Thema in einem Beitrag auf seiner Homepage behandelt und sagt zusammenfassend Folgendes:[8] In den 14 Jahrhunderten der islamischen Geschichte gab es kein Beispiel darüber, dass eine Frau die Freitagspredigt und das Freitagsgebet geleitet hat. Es  gibt einen gesicherten Konsens darüber, dass eine Frau das Gebet vor Männern nicht leiten darf. Das Vorbeten sei den Männern überlassen. Als  Begründung nennt er die körperliche Aktivität im Gebet, die die Verbeugung und  Niederwerfung beinhalten, wodurch die Männer von der betenden Frau abgelenkt werden könnten und es auch für die Frau unangenehm wäre sich vor den Männern zu verbeugen. Dass die Frauen ebenfalls von dem vorbetenden Mann abgelenkt werden könnten, erwähnt Qaradawi nicht. Aufgrund dieser natürlichen Verschiedenheit der beiden Geschlechter habe Gott die Trennung im Gebet vorgesehen, damit man sich nicht gegenseitig ablenkt. Deshalb müssten die Frauen hinter den Männern beten. Dazu zitiert er einen Hadith:

خير صفوف النساء آخرها، وشرها أولها، وخير صفوف الرجال أولها، وشرها آخرها

„Die beste Reihe [im Gebet] der Frauen ist die letzte und die schlechteste die erste. Bei den Männern ist die beste Reihe die erste und die schlechteste die letzte.“

Dieser Hadith deutet natürlich nicht auf ein Verbot hin, beschreibt aber die gängige Anordnung der Reihen im Gebet, so wie es zur Zeit des Propheten und danach verrichtet wurde.

Das Verbot für Frauen ein gemeinschaftliches Gebet/Freitagsgebet zu leiten basiere nicht nur bloß auf Tradition und Gewohnheit, sondern sei eine religiöse Praxis, die von den Anfängen bis heute ununterbrochen in allen Rechtsschulen praktiziert werde. Es besteht also ein Konsens der Muslime. Kein einziger Gelehrter hätte die Meinung vertreten, dass eine Frau ein Freitagsgebet leiten könne.

Danach bestätigt er, dass es kein explizites Verbot diesbezüglich in den Offenbarungsquellen gibt, außer einem schwachen Hadith, wo es explizit verboten wird. Aber einen solchen Hadith könne man bei einer derart wichtigen Angelegenheit nicht als Begründung akzeptieren. Im Anschluss erwähnt er die Umm Waraqa-Überlieferung, dass der Prophet ihr erlaubt habe in ihrem Haushalt vor Männern und Frauen vorzubeten und habe ihr einen Muazzin bereitgestellt. Auch dieser Hadith wird von vielen als schwach kategorisiert. Aber auch wenn man es als authentisch klassifizieren würde, könnte man hieraus keine allgemeine Erlaubnis zur Leitung des Gemeinschaftsgebetes in der Moschee ableiten, sondern entweder als eine spezielle Erlaubnis für Umm Waraqa verstehen oder als eine Erlaubnis für Frauen im eigenen Haushalt die Gebete leiten zu dürfen. Aber keineswegs könne man davon ableiten, dass die Frau die Gemeinschaftsgebete in der Moschee oder gar das Freitagsgebet leiten könne. Außerdem erwähnt er die hanbalitische Meinung, dass eine gelehrte Frau, wenn kein gelehrter Mann zur Verfügung stehe, die Tarawih-Gebete leiten könne, in dem sie nicht vor den Männern, sondern hinter ihnen stehe. Dies sei die einzige Ausnahme der Regel.

Zusammengefasst beruft sich Qaradawi auf den Konsens der Muslime, auf die jahrhundertelange Praxis und auf die fehlenden ausreichenden Belege für die Erlaubnis, dass eine Frau vorbeten darf. Der Konsens seit der Frühzeit sei so sicher, dass es nur durch eine ähnlich starke Quelle widerlegt werden kann, so die Argumentation von al-Qaradawi. Denn im Bereich der Gottesdienste (ibadat) gilt nicht die Regel, dass alles grundsätzlich erlaubt ist, sondern die Gottesdienste sind so auszuführen, wie sie vom Propheten überliefert wurden. Sie sind nicht an einen Rechtsgrund (illa) gebunden, sondern sind gemäß der normativen Vorgabe des Propheten zu verrichten (taʿabbudi). Da der Prophet in den Moscheen immer nur Männer vorbeten ließ und Frauen in den hinteren Reihen gebetet haben, gilt diese Praxis als die Norm. In diesem Falle wird der Konsens der Prophetengefährten und der Gelehrten als eine Fortführung der prophetischen Sunna verstanden, ohne dass man ihn explizit in Form eines Hadithes ausweisen kann. Die Gelehrtenmeinungen von Tabari und Abu Thawr, die bei Abou El Fadl auftauchen, erwähnt er nicht.

Fatwa der Diyanet

In diesem Zusammenhang kann auch eine Fatwa der Diyanet angeführt werden, in der fast identisch argumentiert wird[9]: Alle Rechtsschulen verbieten es Frauen, vor einer Männergemeinschaft vorzubeten. Die Erlaubnis für Umm Waraqa zur Zeit des Propheten wurde als eine für sie spezielle Ausnahme interpretiert. Ferner wird der Hadith, den Qaradawī als schwach eingestuft hat, zitiert, wo es heißt: „Keine Frau darf das Gebet eines Mannes leiten“. Danach folgt das historische Argument, dass dies seit der prophetischen Zeit bis heute nicht praktiziert wurde und deshalb als eine unerlaubte Neuerung (bidʿa) einzustufen sei. Der letzte Punkt wird bei Qaradawī nicht explizit genannt, aber angedeutet.

In den hanafitischen Fiqh-Werken wird eine weitere Überlieferung zitiert, nämlich:

أخروهن من حيث أخرهن الله

„Versetzt die Frauen nach hinten, dort wo sie Allah versetzt hat“. Diese Aussage taucht in vielen hanafitischen Werken als ein Hadith des Propheten auf, aber die späteren hanafitischen Gelehrten haben festgestellt, dass diese Aussage auf den Prophetengefährten Ibn Masʿud zurückgeht und deshalb nicht als eine Prophetenaussage eingestuft werden kann. Auch wenn es ein authentischer Hadith wäre, würde diese Aussage auch kein Verbot ausdrücken, sondern die gängige Reihenfolge im Gebet. Aber aufgrund zahlreicher Berichte über die Reihenanordnung im Gebet, lässt sich mit Sicherheit sagen, dass in der Gemeinschaft Frauen immer hinten gebetet haben und in keinem einzigen Beispiel als Vorbeterinnen in einer Moschee fungiert haben. Daraus leiten die Gelehrten ab, dass der Konsens die prophetische Sunna repräsentiert und deshalb nicht umgeändert werden darf. Die gleiche Meinung vertritt auch die bekannte kanadische Theologin Ingrid Mattson, die sich als Präsidentin der Islamic Society of North America (2006-2010) stark für das Mitspracherecht der Frauen in den Moscheegemeinden eingesetzt hat. In rituellen Angelegenheiten wie das Gebet seien die Vorgaben des Propheten verbindlich und dürften deshalb nicht umgeändert werden.

Jonathan Brown – Die Hinterfragung des Konsenses

Das Hauptargument der traditionellen Perspektive ist also der Konsens und die jahrhundertelange Praxis. Gibt es aber diesbezüglich tatsächlich ein Konsens unter allen Gelehrten? Jonathan Brown bezweifelt dies in seinem Buch Misquoting Muhammad und sagt, dass man nicht von einem Konsens sprechen kann, wenn mindestens vier bekannte Mujtahids (Rechtsgelehrte) aus den ersten vier Jahrhunderten gegenteiliger Meinung waren. Diese vier Mujtahids sind Tabari, al-Muzani, Abu Thawr und Abu Dawud az-Zahiri (und Muhyiddin Ibn Arabi). Die Existenz eines Konsenses könne nur dann behauptet werden, wenn tatsächlich keine einzige Gegenmeinung vorhanden sei. Aus der usul al-fiqh-Perspektive betrachtet wäre dieser Konsens also lückenhaft und biete Interpretationsmöglichkeiten. Da die hier genannten Gelehrten alle Mujtahids sind und die Befolgung eines Mujtahids im usul al-fiqh erlaubt ist, könne man die Meinung dieser Gelehrten folgend die Position vertreten, dass die Gebetsleitung der Frau erlaubt ist.

Zaid Shakir und die traditionelle Perspektive

Zaid Shakir schrieb im Jahre 2005 einen Artikel mit dem Titel „An Examination of the Issue of Female Prayer Leadership“ als Replik auf die öffentlich zelebrierte Freitagspredigt von Amina Wadud in New York im gleichen Jahr. Hier behandelt er diese Frage aus der islamrechtlichen perspektive und bietet einen guten Einblick in die traditionell sunnitische Sichtweise. Der Einwand, dass durch  die gegenteiligen Meinungen einiger Gelehrter kein Konsens in dieser Frage bestanden hätte, wird von Zaid Shakir wie folgt beantwortet. Aus der sunnitischen Perspektive sei dieser Einwand nicht haltbar. Die Information, dass Rechtsgelehrte wie at-Tabari, al-Muzani, Abu Thawr und Abu Dawud az-Zahiri  die Vorbeterrolle der Frau erlaubten, erfahren wir aus rechtsvergleichenden Büchern wie Ibn Rushds „Bidayat al-mujtahid“, aber nicht direkt aus den eigenen Werken dieser Gelehrten oder von deren Schülern. D.h. es ist nicht überprüfbar, ob sie tatsächlich dieser Auffassung waren. Denn in den uns bekannten Werken wird zumindest von al-Muzani und Dawud az-Zahiri genau das Gegenteil überliefert. Al-Muzani, der ein Schüler von Ash-Shafii war, stellt nämlich in seinem al-Mukhtasar ganz klar fest, dass das Gebet hinter einer Frau als Imamin nicht gültig sei. Ibn Hazm, der wichtigste Vertreter der  zahiridischen Rechtsschule und dementsprechend ein Befolger Dawud az-Zahiris, behauptet in dieser Frage einen Konsens darüber, dass das Gebet hinter einer Frau nicht erlaubt ist. Wenn Dawud az-Zahiri anderer Meinung wäre, hätten wir dies aus den Werken Ibn Hazms entnehmen müssen. Der einzige, dessen Meinung wir direkt aus seinen eigenen Schriften kennen, ist Ibn Arabi und das nicht aus einem Fiqh-Werk, sondern aus einem Buch zum Tasawwuf. Deshalb könne man laut der sunnitischen Auffassung solche nicht verifizierbaren Aussagen bei derart wichtigen Angelegenheiten nicht zugrunde legen und den Konsens der Gelehrten damit umgehen. Dieser Umstand wird in den adab al-fatwa Werken diskutiert, wonach nur solche Meinungen herangezogen werden dürfen, die ausgiebig dokumentiert sind und gut überliefert wurden. Die bloße Erwähnung einer gegenteiligen Meinung würde den Konsens also nicht aufheben, weshalb das Argument des Konsenses weiterhin bestehen bleibe. Die Meinungen der Gelehrten der vier Rechtsschulen seien hingegen über die Jahrhunderte hinweg ganz klar überliefert worden. Durch Zweifel könne Gewissheit nicht aufgehoben werden. Aus der traditionell-sunnitischen Perspektive ist also ein Verbot durch den Rekurs auf den Konsens legitimierbar. Denn der Konsens bietet laut der sunnitischen uṣūl al-fiqh-Theorie sicheres Wissen. Wobei aber ein Konsens, der nicht auf explizite Offenbarungstexte zurückgeht nicht auf der gleichen Stufe zu bewerten ist, wie ein Konsens, der sich auf Offenbarungstexte stützt.

In Bezug auf den Hadith von Umm Waraqa betont Zaid Shakir, dass daraus, wenn dann nur die Erlaubnis abzuleiten wäre, im eigenen Haushalt die Gebete leiten zu dürfen, aber kein öffentliches Gebet in der Gemeinschaft und erst recht kein Freitagsgebet, also eine ähnliche Herangehensweise wie Qaraḍāwī. Einige moderne Gelehrte erlauben deshalb Frauen innerhalb der Familie und Verwandtschaft die Gebete zu leiten. Zaid Shakir hält als ein Vertreter der traditionell-sunnitischen Perspektive fest, dass laut allen Rechtsschulen die Gebetsleitung der Frau von einer gemischten Gemeinschaft verboten und deshalb auch heute nicht zulässig sei.

Abdullah ibn Bayyah und der gelassene Blick

Der mauretanische Gelehrte Abdullah ibn Bayyah äußerte sich im Rahmen einer Fatwa[10] zu dieser Frage und nahm eine etwas gelassenere Position ein:  Wenn Frauen wie Amina Wadud und andere, die ehrlich und ernsthaft an die Legitimität einer solchen Praxis glauben und diese in ihren Gemeinden umsetzen wollen, dann könne man dies für diese Gemeinden als erlaubt betrachten, weil hier aufgrund der überlieferten abweichenden Meinungen der vier Gelehrten und des Umm-Waraqa-Hadithes Spielraum besteht. Wenn es Spielraum für Meinungsverschiedenheiten gibt, sollte man diesen nutzen, um die Menschen einander näherzubringen. Er betont aber deutlich, dass die theologischen Belege diesbezüglich für eine konsensfähige, mehrheitliche Praxis nicht ausreichen, um die etablierte sunnitische Mehrheitsposition zu ändern. Hier vertritt er eine ähnliche Position wie Zaid Shakir oder Qaradawī und erlaubt eine solche Praxis für die Allgemeinheit der Muslime nicht. Aber als Ausnahmeregelungen für kleinere Gemeinden vor allem im Westen könne man hier ein Auge zudrücken und deren Ijtihad diesbezüglich akzeptieren.

Zusammenfassung

Pro-Argumente: Befürworter der Gebetsleitung der Frau:

  • Es gibt kein eindeutiges Verbot aus den Offenbarungsquellen
  • Die Hadithe, die auf  ein Verbot hindeuten, sind schwach
  • Es gibt einen Hadith (Umm Waraqa), der auf eine Erlaubnis hindeutet
  • mindestens vier Rechtsgelehrte vertreten die Meinung, dass es erlaubt ist
  • Es gibt die hanbalitische Meinung, dass eine Frau das tarawih-Gebet leiten darf, in dem sie hinter der Gemeinschaft steht.

Contra-Argumente: Diejenigen, die die Gebetsleitung der Frau nicht erlauben:  

  • Es gibt einen etablierten, sicher überlieferten Konsens seit der Frühzeit; die abweichenden Meinungen können den Konsens nicht aufheben, weil sie schlecht überliefert sind.
  • Ein eindeutiges, explizites Verbot ist nicht notwendig, weil die Gottesdienste entsprechend des prophetischen Vorbildes praktiziert werden müssen und eine Abweichung als unerlaubte Neuerung gilt; der Konsens und die ununterbrochene Praxis repräsentieren die Sunna und sind damit verbindlich
  • Der Umm-Waraqa-Hadith kann lediglich als ein Beleg herangeführt werden, dass eine Frau im eigenen Haushalt das Gebet vor männlichen Familienmitgliedern und Verwandten leiten kann, aber nicht das Gemeinschaftsgebet in der Moschee und erst recht nicht das Freitagsgebet.

Aufgrund dieser Argumentationsmuster kann zusammenfassend festgehalten werden, dass die Meinung, welche das Vorbeten der Frau vor Männern in der Moscheegemeinschaft (und damit auch die Leitung des Freitagsgebetes)nicht erlaubt, aus der traditionell-sunnitischen Perspektive durch den Konsens legitimierbar ist und im Rahmen der sunnitischen Rechtshermeneutik schlüssig ist. Der Konsens repräsentiert hier die Sunna des Propheten, welche Generation für Generation sowohl in der Praxis als auch in der Lehre überliefert wurde, weshalb sie als verbindlich erachtet wird. Allerdings ist dieser Konsens  aufgrund der fehlenden expliziten Quellenbelege aus den Offenbarungstexten nicht so stark wie ein Konsens, der sich auf Offenbarungstexte stützt. Deshalb und aus den angeführten anderen Gründen heraus ist ein solches Verbot nicht definitiv also qatʿi, sondern zanni, also präsumtiv und kann deshalb als haram ijtihadi, also als ein durch Ijtihad begründetes Verbot kategorisiert werden. D.h. wer dieses Verbot als erlaubt erklärt, wird nicht des Unglaubens bezichtigt, weil darin ein Interpretationsspielraum vorhanden ist, der durch den Konsens faktisch als aufgehoben akzeptiert wurde. Wer den Konsens nicht als Beleg akzeptiert und damit das Autoritätsargument ablehnt, wird  sich auf den Umm Waraqa-Hadith berufen. Für die liberale Herangehensweise ist es also durchaus schlüssig, dass sie die Vorbeterrolle der Frau befürworten und praktizieren, da sie die 1400 jährige Fiqh-Tradition und damit den Konsens der Prophetengefährten und der späteren Generationen nicht als verbindlich akzeptieren. Für eine mehrheits- und konsensfähige Praxis sind die Quellen und Beweise jedoch viel zu schwach, weshalb sich in den großen Moscheegemeinden in Deutschland und auch in der islamischen Welt eine solche Praxis wahrscheinlich nicht etablieren wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Handlung in manchen Richtungen als verboten und von anderen als erlaubt betrachtet wurde, weshalb man gelassen mit dieser Thematik umgehen sollte. Die ganz große Mehrheit der Muslime betrachtet die Gebetsleitung der Frau vor Männern als verboten und eine kleine Minderheit betrachtet sie als erlaubt. Wichtig ist, dass jeder seine Position – liberal, konservativ, traditionell, etc.- offen vertreten kann ohne befürchten zu müssen aus dem Diskurs ausgeschlossen zu werden. Trotz Diskrepanzen und Kommunikationsschwierigkeiten muss ein gemeinsamer Minimalkonsens angestrebt werden auf deren Grundlage ein respektvoller Umgang ermöglicht wird. Es werden in Zukunft wahrscheinlich weitere liberale Moscheen mit einer Imamin als Leiterin der Gemeinde in verschiedenen Städten entstehen und diese werden sich auf die oben genannten Argumente berufen. Aus der mehrheitlich sunnitischen Perspektive sollte man einfach gelassen damit umgehen. Auch wenn man es ablehnt und nicht praktiziert, muss dieser Umstand einfach akzeptiert und zur Kenntnis genommen werden. Auf der anderen Seite sollte das Thema der weiblichen Gebetsleitung nicht ständig als Druckmittel gegenüber den großen Moscheeverbänden genutzt werden. Die Entscheidung bei solchen religiösen Angelegenheiten sollte man den Religionsgemeinden selbst überlassen und deren Entscheidung auch respektieren.


[1] Ali Ghandour, Die Weiblichkeit bei Muḥyī ad-Dīn Ibn al-ʿArabī, 2015, S. 14. http://www.ibnarabi.de/pdf/Das%20Weibliche%20in%20den%20theologischen%20Lehren%20Muhyī%20ad-Dīn%20Ibn%20al-ʿArabī.pdf  (zuletzt gesehen 21.06.2021)

[2] https://zaytuna.edu/academics/faculty/zaid-shakir

[3] https://themuslim500.com/profiles/yusuf-al-qaradawi/

[4] http://binbayyah.net/english/bio/

[5] https://www.usuli.org und https://law.ucla.edu/faculty/faculty-profiles/khaled-m-abou-el-fadl

[6] https://www.searchforbeauty.org/2010/04/05/fatwa-on-women-leading-prayer/ (zuletzt gesehen: 20.06.2021)

[7] https://lib-ev.jimdo.com/positionspapiere/ Das Positionspapier des Liberal Islamischen Bundes.

[8] https://www.al-qaradawi.net/node/4192 (zuletzt gesehen: 21.06.2021)

[9] https://kurul.diyanet.gov.tr/Cevap-Ara/256/kadinlar-erkeklere-namaz-kildirabilir-mi- 

[10] https://www.youtube.com/watch?v=VNf9SuM-UbE


2 Kommentare zu „Der Diskurs um die „Imamin“ – Dürfen Frauen vorbeten? Eine Fiqh-Perspektive!

Gib deinen ab

  1. Kann es sein, dass im Folgenden Satz ein „nicht“ fehlt:

    Deshalb könne man laut der sunnitischen Auffassung solche nicht belegten, nicht verifizierbaren Aussagen für solch wichtige Angelegenheiten [nicht?] zugrunde legen und den Konsens der Gelehrten damit umgehen.

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