Das obige Bild stammt von meinem letztwöchigen Arztbesuch und soll uns hier als Beispiel dienen, wie scheinbar eindeutige Aussagen sich dennoch als äußerst komplex erweisen können, woraus dann Schlüsse für die Koranauslegung gezogen werden soll.
Als ich vor dem Eingang der Arztpraxis stand, sah ich die zwei sich auf dem ersten Blick widersprechenden Schriftzüge. Aufgrund der Anbringung der Schriftzüge ist leicht zu erkennen, dass der untere Text „Bitte klingeln, dann ziehen“ älter und die mit Tesafilmen angebrachte Aufschrift „Bitte klingeln und warten! Wir öffnen die Tür, sobald die Anmeldung frei ist.“ aktueller ist. Da uns der Kontext mit den Corona-Maßnahmen bekannt ist, gab es keinerlei Probleme diese beiden widersprüchlichen Aussagen zu verorten: Normalerweise müsste man klingeln und dann ziehen, um zur Anmeldung zu gelangen. Aber aufgrund der momentanen Corona-Maßnahmen wolle man, so die naheliegende Interpretation, eine Ansammlung an der Anmeldung verhindern, so dass man erst klingeln und solange warten muss, bis die Tür vom Personal geöffnet wird. Erst dann dürfe man zur Anmeldung. Soweit verständlich. Es handelt sich also um eine klassische Abrogation (naskh), wonach die spätere Aussage, die vorherige teilweise oder vollständig aufhebt. Gültig ist die zweite, aktuellere Aussage!
Was auf dem ersten Blick eindeutig zu sein schien, entpuppte sich als eine äußerst mehrdeutige Aussage. Denn bei der Umsetzung habe ich gemerkt, dass mir wesentliche Informationen vorenthalten wurden.
Auf dem aktuelleren Bild (wovon wir annehmen, dass es aktueller ist) steht „warten, wir öffnen die Tür“. Wie die Tür geöffnet wird, steht jedoch nicht da. Laut der älteren Ansage müsste man ja ziehen, um die Tür zu öffnen. Aber „das Ziehen“ wurde anscheinend durch die neue Anrede abrogiert und man müsste stattdessen warten und nicht ziehen. Also soll man warten bis die Tür vom Personal geöffnet wird – entweder in dem jemand persönlich zur Tür kommt oder automatisch per Knopfdruck.
Also wartete ich geduldig, bis dann ein anderer Patient, der die Praxis verlassen wollte, von innen die Tür öffnete. Ich stand plötzlich vor der geöffneten Tür und blickte fragend zur Anmeldung, ob ich nun reindürfte. Denn die Tür wurde ja nicht vom Personal geöffnet, sondern von einem anderen Patienten. Erst als mich eine andere Patientin, die sich hinten angestellt hatte und anscheinend schon einmal dort war und wusste, wie es gemeint war, mir bestätigte, dass ich nun eintreten dürfte, ging ich zögernd hinein. Auch dann war ich mir unsicher, ob ich nun tatsächlich reinkommen darf oder solange warten muss bis die Anmeldung tatsächlich frei wird. Denn es stand noch jemand an der Anmeldung. Als mir die Sekretärin an der Anmeldung bestätigte, dass es nicht schlimm sei, dass zwei Personen sich gleichzeitig an der Anmeldung befinden, ginge ich ruhigen Gewissens zur Anmeldung und stellte mich an. Als ich dann danach fragte, ob es richtig war, dass ich gewartet hatte, erzählte sie mir, wie diese Aussage zu verstehen ist.
Es sei korrekt, dass ich geklingelt und gewartet habe. Und zwar solange bis das Personal den Knopf drückt und ein Brummen an der Tür zuhören ist (wobei das Brummen kaum zu hören war) und ich selbst dann doch „ziehen“ muss. Erst durch die Erklärung des ursprünglichen Verfassers- in diesem Falle der Sekretärin an der Anmeldung (wir nehmen an, dass die Ärzte und die Sekretärinnen die Aufschriften gemeinsam entworfen haben oder zumindest gemeinsam den Vorgang besprochen haben), habe ich verstanden, wie diese beiden Aussagen zu verstehen und konkret umzusetzen waren. Mir wurden also bestimmte Informationen vorenthalten, so dass ich rein vom Wortlaut der beiden Aussagen nicht sofort verstanden hatte, wie diese Instruktionen konkret umzusetzen waren. Deshalb war es notwendig, jemanden zu fragen, der schon einmal in einer solchen Situation war (die Patientin, die hinter mir stand) oder der den ursprünglichen Redekontext und deshalb auch die richtige Interpretation kannte (die Sekretärin).
Nach diesen Erklärungen und der konkret erfahrenen Praxis ließe sich die aktuelle Aussage nicht als eine Abrogation der älteren verstehen, sondern als eine nähere Erklärung einer unklaren Aussage (bayān al-mujmal). In einer klassischen Kommentarform ließen sich die beiden Aussagen wie folgt lesen (Fettgedruckt ist die erste Aussage und Kursiv die zweite Aussage): „Bitte klingeln und dann warten. Wir öffnen die Tür, sobald die Anmeldung frei wird, dann ziehen.“
Die erste Aussage blieb also weiterhin gültig und wurde stattdessen dahingehend spezifiziert, dass man nicht sofort nach dem Klingeln ziehen, sondern erst einmal die Freigabe des Personals abwarten muss und dann ziehen sollte. Weiterhin habe ich verstanden, dass diese Abfolge nicht unbedingt wörtlich zu nehmen ist. Denn auch wenn ein anderer Patient die Tür öffnet und nicht das Personal, würde es auch gehen, weil die Patienten quasi mit der Erlaubnis des Personals die Tür öffnen und dementsprechend durch diese Aussage miterfasst werden. Auch die Aussage „sobald die Anmeldung frei wird“ sei nicht wortwörtlich zu verstehen im Sinne von komplett frei, sondern relativ frei. Dass eine Person oder zwei vorhanden sind, wäre kein Problem. „Sobald die Anmeldung frei ist“ bedeutet also, sobald keine große Ansammlung mehr da ist. Das könnte man dahingehend deuten, dass das Ziel darin besteht eine Ansammlung zu verhindern. Dies müsste dann auch für die anderen Bereiche gelten. Wenn also draußen vor der Tür sich mehrere Leute befinden würden, müsste man eine Abwägung treffen, was gefährlicher ist: Ob vor der Tür in der Halle mehrere Personen stehen oder vor der Anmeldung. Im Zweifelsfalle könnte/müsste man also mehrere Personen reinlassen, um den Andrang draußen zu verhindern. Also ließe sich diese Äußerung rein lexikalisch, kontextentsprechend oder zielorientiert verschiedenartig auslegen.
Kurz vor dem Verlassen der Praxis habe ich jedoch eine erneute Information bekommen über die eigentliche, ursprüngliche Intention hinter den beiden Aussagen. Zu Beginn der Pandemie sei die neue Aufschrift „Bitte warten. Wir öffnen die Tür sobald die Anmeldung frei ist“ tatsächlich in dem Sinne gemeint gewesen, dass ein Personal persönlich kommt und die Patienten vom Eingang abholt (1. Bedeutung). Erst durch die Lockerung der Maßnahmen im Laufe der Zeit, habe man auch die eigene Praxis etwas gelockert und sei zur jetzigen Praxis übergegangen (2. Bedeutung). Das heißt, ursprünglich standen diese beiden Aussagen tatsächlich in einem Abrogationsverhältnis, d.h. die zweite Aussage hob die erste Aussage auf. (1. Bedeutung: Klingeln, warten bis die Tür vom Personal persönlich geöffnet wird) Erst im Laufe der Zeit ist man vom Wortlaut der Aufschriften abgewichen und hat diese neue Praxis etabliert, ohne dies am Wortlaut erkennbar gemacht zu haben (2. Bedeutung: Klingeln, warten, brummen und ziehen).
Die Bedeutung dieser Aussagen hat sich also im Laufe dieser 1,5 Jahre seit der Pandemie verändert, welche jedoch nicht sprachlich fixiert worden ist, sondern in der Praxis einvernehmlich beschlossen wurde. Es könnte also sein, dass Patienten derselben Praxis zu verschiedenen Zeiten die Praxis besucht haben und deshalb unterschiedlich über die Handhabe berichteten. Diese widersprüchlichen Berichte der Praxisbesucher könnten durch die zeitliche Einordnung der Praxisbesuche aufgelöst werden. Beide Interpretationen wären also jeweils zu unterschiedlichen Zeiten gültig gewesen.
Also können wir die Interpretation wagen: Wenn die Inzidenzzahlen hoch sind und damit die Situation für die Patienten als sehr bedrohlich empfunden wird, gilt die erste Bedeutung mit der Abrogation. Wenn die Situation als weniger bedrohlich empfunden wird, gilt die zweite Bedeutung. Man könnte an dieser Stelle noch weitere hypothetische Überlegungen anführen, aber ich glaube die Problematik ist deutlich geworden. Als ich die Praxis verließ, musste ich grinsen, weil ein anderer die gleichen Probleme hatte und ich ihm daraufhin erklärt habe, wie es tatsächlich gemeint ist.
Allein aus dieser alltäglichen Sprachpraxis ist ersichtlich geworden, dass trotz der zeitlichen Nähe und des bekannten Kontextes sogar einfache Aussagen mehrdeutig verstanden werden können. Es ist also naiv zu glauben, man könne den Koran, der vor 1400 Jahren an bestimmte Adressaten in einem bestimmten Kontext offenbart wurde, ohne die Befragung der Erstadressaten und der Auslegungstradition adäquat verstehen. Häufig ist auch dann nicht garantiert, dass die Aussagen richtig verstanden wurden, weil es teilweise auch unter den Erstadressaten unterschiedliche Meinungen gab. Wenn es aber zum Beispiel einen Konsens gibt über das Verständnis einer Aussage, dann lässt sich wohl mit einer großen Wahrscheinlichkeit schließen, dass diese Bedeutung auch die intendierte Bedeutung des Sprechers gewesen ist. Zumindest würde man durch den Rekurs auf die Erstadressaten eine hermeneutische Vorauswahl treffen und die Bedeutungsmöglichkeiten eingrenzen, wie eine Aussage zu verstehen oder nicht zu verstehen ist. Denn der erste Schritt muss immer sein, nach der Intention des Sprechers zu fragen und diese kann man nur durch den Rekurs auf den Sprachkontext und den Adressaten erfahren. Erst dann folgt der nächste Schritt der zeitgenössischen Auslegung dieser Aussagen. Nun soll dieser Befund aus der alltäglichen Praxis mit Ansätzen aus der gegenwärtigen Sprachphilosophie und den Bedeutungskonzepten der muslimischen Rechtsgelehrten untermauert werden.
Bedeutungstheorie als Gebrauchstheorie und die Bestimmung der Sprecherintention in der muslimischen Rechtshermeneutik
Es gibt verschiedene Ansätze in der gegenwärtigen Sprachphilosophie, die der Frage nachgehen, wie es dazu kommt, dass ein sprachlicher Ausdruck Bedeutung hat. Der herrschende Ansatz bei den muslimischen Rechtsgelehrten lässt sich als eine Gebrauchstheorie bezeichnen, in der der Sprecherintention eine fundamentale Rolle beigemessen wird und die Bedeutung eines Ausdrucks wesentlich durch den Gebrauch des Sprechers bestimmt wird. Denn im Zentrum der sprachwissenschaftlichen Interessen der Rechtsgelehrten lag nicht die formale Analyse von Sprache, sondern die Absicht, Gottes Intention herauszufinden. „Eine Äußerung verstehen“ bedeutet hier in erster Linie, dass man versteht, was der Sprecher mit der Äußerung gemeint hat. Das setzt voraus, dass man die Bedeutungen der gebrauchten Ausdrücke kennt, was wiederum zeigt, dass zwischen der Bedeutung von Ausdrücken und der Intention des Sprechers ein Zusammenhang besteht. Diese Fragen müssen letztendlich in einer systematischen Bedeutungstheorie münden, welche die Frage klärt, wie ein sprachlicher Ausdruck eine Bedeutung haben kann.
„Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“[1]
Mit diesem berühmt gewordenen Satz leitete Ludwig Wittgenstein (1889-1951) eine regelrechte Wende in der sprachphilosophischen Debatte ein, dessen Wirkungen bis heute andauern. Wittgenstein, der zunächst der vom logischen Positivismus beeinflussten „Philosophie der idealen Sprache“ angehörte, begründete somit die „Philosophie der normalen Sprache“ (Ordinary Language Philosophy)[1], in der die Auffassung herrschend ist, dass die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken in ihrem Gebrauch besteht[2].
Die Gebrauchstheorie ist das herrschende Paradigma in der gegenwärtigen sprachphilosophischen Debatte, die vor allem durch die Sprechakttheorien von John L. Austin und John Searle und durch die bahnbrechende Theorie der Konversationsimplikaturen von Paul Grice wesentlich beeinflusst wurde. Letzterer übte einen nachhaltigen Einfluss auf die späteren Debatten aus, da er im Gegensatz zu den anderen in seiner Bedeutungstheorie der Sprecherbedeutung bzw. Sprecherabsicht eine fundamentale Rolle beimisst. Ihm zufolge ist die Bedeutung eines Satzes das, was der Sprecher mit der Äußerung des Satzes beabsichtigt hat. Die Bedeutung eines Ausdrucks lässt sich nach Grice also nur unter Rekurs auf die Intention des Sprechers bestimmen[1]. Ein Vergleich zwischen dem Bedeutungsbegriff von Paul Grice (1913-1988) und von dem der muslimischen Rechtsgelehrten offenbart sehr viele Ähnlichkeiten. Das arabische Wort für Bedeutung, nämlich „maʿnā“ ist das Verbalsubstantiv des Verbs ʿanā/yaʿnī, welches wörtlich etwas „meinen“ oder etwas „intendieren“ bedeutet. Demzufolge bedeutet das arabische Wort maʿnā wörtlich „das Gemeinte“ oder „das Intendierte“[2] und drückt in erster Linie eine bestimmte Intention eines Sprechers[3] aus[4]. Dies entspricht im Wesentlichen dem nichtnatürlichen Bedeutungsbegriff von Paul Grice. Paul Grice unterscheidet zwischen einer natürlichen und nicht-natürlichen Bedeutung. Eine natürliche Bedeutung ist die konventionelle Wort- und Satzbedeutung von Ausdrücken, wohingegen die nicht-natürliche Bedeutung die Sprecherbedeutung ist. In einer kommunikativen Situation könne jedoch nur von einer nicht-natürlichen Bedeutung die Rede sein, da es sich letztendlich immer um die Intention des Sprechers handele, der durch das Sprechen zugleich auch eine Handlung vollzieht und dadurch versucht beim Hörer eine Wirkung hervorzurufen[5].
„‚x bedeutetenn[1] etwas’, ist (in etwa) äquivalent mit ‚Jemand meinte mit x etwas.’“[2]
Wie lässt sich aber das Gemeinte erschließen ohne den Sprecher direkt zu fragen? Welche anderen Möglichkeiten gibt es noch? Hier bringt Paul Grice die Adressaten ins Spiel und sagt, dass der Sprecher mit einer Aussage x beim Hörer eine Wirkung hervorrufen will, die es zu erschließen gilt.
„’S[precher] meinte mit x etwas’ ist (in etwa) äquivalent mit ‚S[precher] beabsichtigte, dass die Äußerung von x bei einem Hörer eine Wirkung mittels der Erkenntnis dieser Absicht hervorruft’“.[1]
Die Frage nach der Bedeutung einer Äußerung ist demnach gleichzusetzen mit der Frage nach der intendierten Wirkung[1], die der Sprecher bei den Hörern hervorzurufen beabsichtigt. Das bedeutet, dass die durch die Äußerung eines Satzes erzielte Wirkung bei den Hörern ebenfalls Bestandteil der Bedeutung ist, vielleicht sogar der eigentliche Schlüssel zum richtigen Verständnis einer Äußerung. Die Bedeutung einer Aussage x kann also unter anderem durch die konkrete Feststellung der hervorgerufenen Wirkung beim Hörer festgestellt werden. Denn der Sprecher beabsichtigt mit einer Aussage x, dass der Hörer die Absicht hinter dieser Aussage versteht und dementsprechend handelt. Dementsprechend spielen außersprachliche Faktoren wie die konkrete Wirkung der Rede auf die Adressaten bei der Frage nach der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke eine fundamentale Rolle.
Wenn der Koran als ein performativer Sprechakt bezeichnet wird, der durch seine Offenbarung eine Veränderung in der sozialen Umwelt hervorgebracht hat, die zur Entstehung der ersten muslimischen Gemeinschaft führte, dann lässt sich im Umkehrschluss sagen, dass die Kenntnis dieser Gemeinschaft eine fundamentale Rolle bei der Frage nach der Bedeutung koranischer Ausdrücke spielt. Denn die erste muslimische Gemeinschaft entstand im Grunde genommen dadurch, dass die Prophetengefährten dem Propheten Muḥammad Folge leisteten und er wiederum gemäß der Offenbarung handelte. Die islamische Gesellschaft war dementsprechend die unmittelbare Folge oder das Produkt der sprachlichen Offenbarung des Korans. Sie haben die intendierte Wirkung Gottes verstanden und in die Praxis umgesetzt, wodurch die islamische Gemeinde entstand. Das heißt sowohl das Leben des Propheten, als auch die Praxis der Prophetengefährten und der frühen islamischen Gemeinde bilden die Manifestationen der intendierten Wirkung der Rede Gottes und sind somit feste Bestandteile der Koranexegese. Damit ist die gesamte Wirkungsgeschichte des Korans in den Bedeutungsbegriff mit eingebunden. Wichtig sind aber vor allem die Erstadressaten, weil sie den unmittelbaren Offenbarungskontext kannten und in der Anwesenheit des Propheten die Botschaft empfangen und umgesetzt haben. Deshalb sind die späteren, die diesen unmittelbaren Zugang zum Offenbarungskontext nicht hatten, auf die Zeugenschaft der vorherigen angewiesen, um die Bedeutung koranischer Ausdrücke zu verstehen undzwar so wie sie von Gott gemeint war. Das ist auch der Grund, warum der Konsens der Prophetengefährten bei nahezu allen sunnitischen Richtungen als eine sichere Quelle angesehen wird.
Um es an einem einfachen Beispiel zu zeigen: Die Bedeutung des Koranverses: „Verrichtet das Gebet“ (aqīmū’ṣ-ṣalāt) ist nur unter Rekurs auf die Praxis des Propheten zu klären. Denn das Wort ṣalāt bedeutet wörtlich Bittgebet, also duʿā. Ginge man von der lexikalischen Bedeutung dieses Wortes aus, so würde man daraus verstehen, dass man das Bittgebet aussprechen solle. Deshalb wird dieses Wort in den uṣūl al-fiqh Werken als eine mehrdeutige, näher zu bestimmende Aussage (muğmal) eingestuft. Erst als der Prophet den Menschen zeigte, wie das fünfmalige Pflichtgebet zu verrichten ist, erkannten die Menschen die intendierte Wirkung dieses Verses. Weder die Struktur der Sprache, noch die Kenntnis der lexikalischen Bedeutung dieses Wortes, würde zum richtigen Verständnis führen. Da die Bedeutung eines Ausdrucks durch den Gebrauch des Sprechers bestimmt wird, lässt sich alleine durch die Kenntnis der Wort und Satzbedeutung nicht die tatsächliche Bedeutung, also die intendierte Wirkung ermitteln. Allein durch die Sprachanalyse lässt sich eine Äußerung also nicht verstehen.
Aussagen wie „Wir müssen den Koran lesen, als ob er in diesem Moment für uns offenbart worden sei“ sind zwar spirituell gesehen wichtig und verständlich, aber rein hermeneutisch gesehen sind sie höchst problematisch. Denn faktisch sind wir nicht die Erstadressaten der koranischen Botschaft, sondern die mittelbaren Adressaten. Wir leben in einem ganz anderen Kontext und sprechen eine ganz andere Sprache. Der Koran sprach primär zu den Erstadressaten im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel und verwendete eine Sprache, wie sie von den Menschen damals verstanden werden könnte. Deshalb müssen wir zunächst einmal den Kontext der Offenbarung und den Sprachgebrauch des Korans im 7. Jahrhundert kennen, um die Intention Gottes feststellen zu können. Erst dann kann die Aktualisierung für unsere Lebenswelt erfolgen. Damit ist also kein Verbot einer zeitgenössischen Interpretation ausgesprochen, sondern dass jede neue Interpretation erst einmal den Ursprungskontext berücksichtigen muss und diese nicht ignorieren darf. Das wiederum geht nicht ohne die Heranziehung des überlieferten Materials aus der Frühzeit. Die klassischen Gelehrten waren sich stets bewusst, dass sie aufgrund der zeitlichen und räumlichen Distanz zum Offenbarungsereignis keinen unmittelbaren Zugang zur Offenbarung hatten und deswegen auch nicht mit hundertprozentiger Gewissheit die Intention Gottes bzw. die Wahrheit erkennen können. Um diese hermeneutische Kluft überbrücken zu können, wurden die verschiedenen theologischen Disziplinen entwickelt, die die Aufgabe hatten, zwischen der gelebten Realität und den Offenbarungstexten zu vermitteln.
Kurzum: Die intendierte Wirkung, die durch die Offenbarung des Korans hervorgerufen wurde, ist in den Handlungen und Aussagen des Propheten Muḥammad und der Angehörigen der frühen muslimischen Gemeinschaft erkennbar und wurde Generation für Generation weitergegeben, sowohl in der Praxis als auch sprachlich. Die rationale Bearbeitung dieses überlieferten Materials befindet sich u.a. in den Werken der verschiedenen theologischen Disziplinen. Um die Bedeutungen des Korans verstehen zu können, muss deshalb zunächst die Frage gestellt werden, wie die Erstadressaten und die darauffolgenden Generationen, also die Angehörigen der frühen islamischen Gemeinschaft ihn verstanden haben, um dann ausgehend von dem Verstandenen das noch zu Verstehende zu verstehen. Die gesamte Wirkungsgeschichte des Korans ist also zu berücksichtigen, um der göttlichen Intention auf die Spur zu kommen.
Deshalb ist die wissenschaftliche Tradition der Theologie so wichtig. Denn sie widerspiegelt die kumulative Denkleistung muslimischer Gelehrsamkeit und die kollektive Erfahrung der Muslime über die letzten 1.400 Jahre. Die wissenschaftliche Tradition lässt sich als eine Art Explikation der göttlichen Rede und der prophetischen Praxis und damit als „normativ“ verstehen, ohne jedoch mit der Offenbarung gleichgesetzt zu werden. Dass die Tradition sich in der Geschichte verändert, transformiert und neu definiert wird, verhindert nicht ihren „normativen“ Charakter. Denn sie versteht sich als ein dynamischer Diskurs, der zwischen dem Offenbarungsereignis und der gelebten Realität vermittelt und somit sowohl bewahrende als auch aktualisierende Züge hat.
[1] Vgl. Prechtl, 1999, S. 60.
[1] Grice, 1979, S. 11.
[1] „bedeutetenn“ steht für nicht-natürliche Bedeutung.
[2] Grice, 1979, S. 11.
[1] Vgl. Plüss, 2001, S. 7.
[2] Vgl. Kouloughli, 2008, S. 160 f.
[3] Genau im Sinne der Griceschen nichtnatürlichen Bedeutung (Bedeutungnn). Siehe Grice,1979, S. 2-15.
[4] Vgl. Görgün, 1998, S. 81 f.
[5] Vgl. Grice, 1979, S. 2-19.
[1] Vgl. Kutschera, 1972, S. 218 ff.
[2] Vgl. Austin, 2002, S. 7.
[1] Wittgenstein, 2001, S. 43; Vgl. Kutschera, 1972, S. 226.
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