
Das hier zu besprechende Buch „Islam in der Krise. Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug“ des Religionswissenschaftlers Michael Blume besteht aus sechs Kapiteln und einem Glossar, das vor allem für nichtmuslimische Leser einige Begriffe, Personen und Konzepte erklären soll. Wie der Titel schon sagt, geht Blume davon aus, dass der Islam in einer tiefen Krise stecke, in deren Folge die Muslime eine innere Distanz zu ihrer Religion entwickelten, so dass sie sich entweder still zurückziehen oder radikalisieren würden. Inwiefern tatsächlich eine Krise auszumachen ist, scheint ihm nicht erklärungsbedürftig zu sein. Er nimmt diese einfach als gegebenen Ausgangspunkt an und sucht nach den Gründen für die Krise „des Islam“, von der er dann meint, sie exakt definieren und aufzeigen zu können. Auf insgesamt 154 Seiten versteht es Blume, seine Vielseitigkeit in eine spannende Erzählung zu packen, in der er zwischen persönlichen Anekdoten, wissenschaftlichen Analysen, interdisziplinären Querverweisen, historischen Exkursen und gesellschaftspolitischen Analysen hin und herspringt, so dass man phasenweise Schwierigkeiten hat, der Argumentation zu folgen. Blume will bequeme Wahrheiten und etablierte Vorurteile hinterfragen, differenziert und vernünftig über die wahre Krise des Islam nachdenken und einen Ausweg aus der Krise anbieten. Seinem Anspruch der differenzierten Betrachtung des Gegenstandes wird er leider nur teilweise im 5. und 6. Kapitel gerecht, alles andere ist ein weiteres Beispiel für den eurozentristischen Diskurs über den Islam als das Andere, auch wenn es eine gut gemeinte Kritik ist.
Im ersten Kapitel warnt er noch vor einer homogenisierenden Betrachtung der Muslime und zeigt berechtigterweise, dass nicht alle Menschen aus muslimisch geprägten Herkunftsländern sich auch als Muslime verstehen, weshalb die bislang angeführten Statistiken über den muslimischen Anteil der Bevölkerung irreführend seien. Einige Zeilen weiter und im gesamten späteren Verlauf des Buches findet man jedoch durchgehend eine monolithische Betrachtung „des Islam“ und „der Muslime“, in der nicht differenziert, sondern eindimensional nach Erklärungsmustern gesucht wird. Essentialisierung, Homogenisierung, Entzeitlichung der Muslime als das Andere Europas und des Christentums, genau genommen des aufgeklärt-protestantischen Christentums, zieht sich durch das gesamte Buch.
Häufig sind Gegenüberstellungen zu lesen wie „Weil aber der Islam keine Entscheidungsreligion wie das Christentum war und ist, hat sich das Verständnis von Mitgliedschaft, Staat und Religion grundlegend anders entwickelt. Dies hat Auswirkungen auf alle islamisch geprägten Nationen – sogar auf vorgeblich laizistische Republiken wie die Türkei.“ (Religionsfreiheit vs. Unterwerfung, S. 16) oder „Im Christentum galt es als freiwillige Verwandlung „Konversion“, zu einem neuen kommenden zugewandten Menschen… Im Islam setzte sich dagegen die Vorstellung einer Rückwendung, Reversion zum in früheren Zeiten verwirklichten, wahren Glauben durch…. Bis heute fragen Christen daher häufiger: >Was würde Jesus heute tun? Wie wird sein Reich aussehen?> Für Muslime dagegen gilt öfter: <Was hat Muhammad früher getan? Wie sah sein Reich aus?“ (Fortschritt vs. Rückwärtsgewandheit, S. 20) oder „Die im Christentum angelegte und im Westen dennoch erst in langen Prozessen und Konflikten durchgesetzte Unterscheidung von Thron und Altar würde über die Integration des Islams wieder aufgehoben“ (Trennung von Staat und Religion vs. Einheit von Staat u. Religion). Alles uralte Stereotype, die Blume in seinem Werk unreflektiert reproduziert Man könnte diese Beispiele beliebig fortsetzen.
Das falsche Verbot von 1485
Vor allem das zweite Kapitel, in dem der Grund für die postulierte jahrhundertealte Rückständigkeit erklärt werden soll, ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie derzeit über den Islam debattiert wird. „Das falsche Verbot von 1485 – Wie der Islam erstarrte?“ So heißt dieses Kapitel. Der Grund für die Erstarrung des „Islam“ seit dem 16. Jahrhundert, sei das Verbot den Buchdruck für religiöse Bücher zu verwenden. Sultan Bayezid habe es in Anlehnung an eine Fatwa des Shayh al-Islams verboten, religiöse Bücher in arabischer Schrift zu drucken und darauf sogar die Todesstrafe gesetzt. Dieses Verbot soll von seinem Nachfolger Sultan Selim wiederholt worden sein, so dass die Muslime erst mit einer zweijahrhundertjährigen Verzögerung den Buchdruck einführen konnten. „Und während Europa unter Umbrüchen, Krisen und Kriegen in Reformation und Neuzeit stürmte, versank die islamische Zivilisation in jener Erstarrung, die Mourou in seiner Predigt als <Schlummer> bezeichnet hat.“ (S. 56) Die Dekadenztheorie oder das Niedergangsparadigma, wonach die islamische Welt nach einer Blüte in eine Phase der Erstarrung und des Niedergangs gerät, ist in der Wissenschaft schon längst überholt (z.B. Bauer, Griffel,etc.). Eine jahrhundertelange Phase des Niedergangs gab es (auch im Osmanischen Reich) nie, sondern immer abwechselnde Phasen von Krisen, Aufbrüchen und Reformen, die wiederum nie global, sondern immer regional zu verorten sind. Eine solche eindimensionale Erklärung bleibt gegenüber Brüchen, Epochenschüben, Sprüngen, Fortsetzungen- kurz, für historische Prozesse blind. Die Geschichtsschreibung ist hier mittlerweile viel differenzierter (z.B. Suraiya Faroqhi für Osmanistik). Blume reproduziert die Dekadenztheorie jedoch unreflektiert, denn nur so könne die derzeitige Krise auch vernünftig erklärt werden. Alle Missstände, Krisen, Probleme die wir heutzutage beobachten, gehen somit auf das falsche Verbot von 1485 zurück. Dummerweise ist jedoch die Existenz eines solchen Verbotes höchst fragwürdig. Diese in der Wissenschaft und in der Populärliteratur häufig genannte Episode wurde noch nie historisch belegt. Einmal in Umlauf gebracht, wurde sie seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder unhinterfragt reproduziert und polemisch fortgeschrieben, weil sie als Erklärung für den fortschrittsfeindlichen Islam passgenau anwendbar war. Auch Blume übernimmt dieses für ihn maßgebende Urteil einer Sekundärquelle und baut darauf seine gesamte Argumentation auf, ohne es genau überprüft zu haben. Höchstwahrscheinlich gab es ein solches Verbot, religiöse Texte zu drucken, gar nicht, geschweige denn eine Todesstrafe. Die Frage, warum die Osmanen die Druckerpresse verspätet eingeführt haben, macht nur aus einer eurozentristischen Perspektive Sinn, eine Perspektive, die erwartet, dass die europäische Entwicklung für alle anderen Kulturen maßgebend sein muss. Die gesamte Entwicklung danach auf ein einziges Ereignis zurückzuführen, das auch noch gar nicht gesichert ist, ist alles andere als differenziert.
„Als zentraler Faktor erweist sich das Verbot des Buchdrucks ab 1485 und damit bis heute nachwirkende Erlahmung der islamischen Bildungs- und Wissenschaftssysteme. Heute erscheint es vielen Musliminnen und Muslimen so, als könnten sie nur entweder koranisch arabisches oder weltlich-empirisches Wissen erwerben“ (S. 72)
In Folge dessen seien auch die Madrasas seit Jahrhunderten erstarrt (Niedergangsparadigma). Den Beweis für diese Aussage will Blume in den Madrasas der Taliban in Pakistan sehen, die er als Brutstätte der Stagnation und der Radikalisierung sieht, in denen die Menschen nichts lernten außer den Koran zu rezitieren. Die Taliban werden hier als typische Repräsentanten der größten Bildungsinstitutionen in der islamischen Welt betrachtet mit der Begründung, der Name Taliban leite sich vom arabischen Wort für Student (Talib) ab (S. 60). Die heutigen pakistanischen Madrasas der Taliban können nicht als unmittelbare Erben beispielsweise der staatstragenden osmanischen oder indischen Madrasas der vormodernen Zeit betrachtet werden, sondern sind als Reaktion auf bestimmte Ereignisse entstanden, wie die britische Kolonialherrschaft, die Zurückdrängung und Marginalisierung der Madrasas als Bildungsinstitution, die Gründung Pakistans, die Islamisierungsbestrebungen pakistanischer Regierungen wie unter Ziya al-Haqq, Afghanistankrieg und der Aufstieg der Taliban, usw. Sehr oft werden Erzählungen miteinander vermischt, Begriffe unpräzise verwendet und zeitlich hin und her gesprungen. So werden gegenwärtige muslimische Themen in Deutschland erst mal mit der medinensischen Praxis des Propheten Muhammad aus dem 7. Jahrhundert und dann unmittelbar mit den Praktiken des IS-Terroristen in einem Atemzug erwähnt (Bsp.: S. 18, 22), um dann am Ende die tatsächliche Tragweite der Krise „aller Muslime“ beweisen zu können.
Mit eindimensionalen Erklärungsmustern geht Blume auch in anderen Kapiteln nicht besonders sparsam um. Hier einige Beispiele: Moscheeverbände werden an einigen Stellen pauschal als Integrationshindernisse dargestellt. „Statt also zu Förderern von Integrations- und Bildungsprozessen zu werden, driften bislang viele – nicht alle – Moscheegemeinden in der westlichen Welt in die sprachliche und geistige Abschottung. Sie tragen dann nicht nur zur Parallel-, sondern leider häufig sogar zu Gegengesellschaften bei.“ (S. 66) Natürlich gibt es für Moscheeverbände sehr viele Baustellen, die sie zu beheben haben, und sie sind derzeit alles andere als optimal funktionierende Gemeinschaften. Aber ihnen pauschal die Herstellung von Parallel- und Gegengesellschaften zu unterstellen („Integrationshindernis“, „Teil des Problems“), ist nicht sehr fair. Seine ablehnende Haltung gegenüber den Verbänden und die offene Sympathie gegenüber „liberalen“ Muslimen ist auch ein immer wiederkehrendes Muster im gesamten Buch.
Dass es auch unter Muslimen eine Säkularisierungstendenz gibt, ist allgemein bekannt. Aber dass sich die allermeisten vom Islam abgewandt oder eine innere Distanz entwickelt hätten, lässt sich daraus nicht ableiten. Blume behauptet, dass die Institute für Islamische Theologie Schwierigkeiten haben, noch ausreichend Studierende zu finden. Fakt ist, dass in fast allen Standorten immer noch mehr Studierende aufgenommen werden, als die Kapazitäten es normalerweise zugelassen hätten. Aber nehmen wir mal an, die Behauptung stimmt und die Institute hätten tatsächlich Schwierigkeiten Studierende zu finden. Auch dann wäre die Schlussfolgerung, das habe was mit der fehlenden Religiosität zu tun, nicht notwendig. Denn vielleicht könnte es an ihrer kritischen Einstellung gegenüber staatlich finanzierten Islam-Instituten liegen oder sie würden es vorziehen im muslimischem Ausland einen für sie authentischeren Islam zu studieren oder – und das wäre der wahrscheinlichste Grund – es liegt an den schlechten Berufsaussichten für die Absolventen der islamischen Theologie, weil z.B. die Frage, ob muslimische Theologinnen mit Kopftuch an Schulen unterrichten dürfen, immer noch nicht für alle zufriedenstellend geklärt ist. Auch hier ist die Analyse sehr oberflächlich. (S. 41) Auch die Behauptung, dass nur weil ein bestimmter Prozentsatz in den Moscheeverbänden Mitglied ist, der größte Teil der Muslime weniger religiös sei, ist eine sehr fragwürdige Schlussfolgerung. Auch die Religiosität an der tatsächlichen Religionspraxis festzumachen, ist ebenfalls problematisch. Es gibt in Deutschland eine sehr starke zivilgesellschaftlich engagierte muslimische Community, die nicht immer in Moscheen organisiert sind, aber sich dennoch als gläubige Muslime aktiv in die Gesellschaft einbringen. In der eindimensionalen Betrachtung Blumes findet dies aber keinen Platz, weil ansonsten die Ausgangsthese auf wackeligen Beinen stehen würde.
Fazit
Michael Blume will eine differenzierte Analyse der Krise des Islam vorlegen. Hier beginnt schon das Problem: Eine Weltreligion mit all ihren Facetten wird als ein Monolith betrachtet, wodurch die gesamte Komplexität reduziert auf einen vermeintlichen Kern zurückgeführt wird. Was tatsächlich entstanden ist, ist eine zu weiten Strecken oberflächliche Aneinanderreihung von Defizitanalysen zum Islam. Aus diesen Defizitanalysen wird eine grundsätzliche Andersheit des Islam gegenüber der westlichen bzw. protestantisch-christlichen Welt gefolgert, wodurch sich das Werk in die Reihe islamkritischer Werke einreihen lässt. Es ist keineswegs so, dass Blume nur problematische Aussagen tätigt. Im gesamten Buch lassen sich auch sehr treffende, sachliche Analysen vorfinden, konstruktive Impulse für Muslime wie Nichtmuslime, interessante Querverweise zur Erhellung der Sachverhalte, aber dadurch dass diese guten und richtigen Beobachtungen in eindimensionale und pauschale Erklärungsmuster gepackt werden, entwertet er deren Aussage- und Wirkkraft. Viel zu oberflächlich und unkritisch werden eindimensionale Erklärungsmuster herangezogen, um riesige Konfliktfelder zu analysieren. Deshalb dient das Buch sicherlich sehr gut, um die Islamisierungsängste in manchen Kreisen zu beschwichtigen, aber dem Diskurs über „den Islam“ und „die Muslime“ in Deutschland, welcher inzwischen viel differenzierter ist, kann es sicherlich keine neuen Impulse geben. Michael Blume hat es vielleicht gut gemeint, aber sicherlich nicht gut gemacht.
Diese Rezension wurde ursprünglich im Huffington Post am 23.02.2018 veröffentlicht.